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KASSENSTREIT Der Ehrliche

aus DER SPIEGEL 16/1960

Die Standesvertretung der deutschen Ärzteschaft hat vor der Dritten Zivilkammer des Landgerichts Gießen verloren: Einer ihrer führenden Repräsentanten, Dr. Zwecker, Vorsitzender der hessischen Kassenärztlichen Vereinigung, mußte sich bescheinigen lassen, daß er den Mediziner Karl Wagner aus Krofdorf-Gleiberg »vorsätzlich rechtswidrig« einen »ehrlichen Arzt« gescholten habe.

Die an sich durchaus respektable Bezeichnung »ehrlicher Arzt« gilt unter deutschen Heilkünstlern als Beleidigung, seit die FAZ unter diesem Titel einen Leitartikel veröffentlichte, der vom Präsidenten der Bundesärztekammer, Dr. Ernst Fromm, in einem Protest-Telegramm an die FAZ-Redaktion als »ungeheuerliche Verunglimpfung« der deutschen Ärzte bezeichnet wurde. Dabei hatte die Autorin, Dr. Heddy Neumeister, in diesem Artikel nur einen jüngeren Arzt zitiert, der sich mit »zögernden Worten« selbst des Betrugs an den Krankenkassen bezichtigte.

Ließ die FAZ den begreiflicherweise anonym bleibenden Mediziner erzählen: »Man rechnet zum Beispiel mehrere Krankenscheine der Familie ab, obwohl man nur einen Patienten behandelt hat... Ich finde es schrecklich, so zu handeln, aber ich muß es tun - wie andere Kassenärzte auch. Denn nur, indem ich mich auf diese Weise im kleinen etwas bezahlt mache, gewinne ich die Zeit und die Kraft, meine ernstlich Kranken so sorgfältig... zu behandeln, wie ich es... sonst nicht tun könnte.«

Die Reaktion auf diese öffentliche Selbstbezichtigung fiel unerwartet heftig aus: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Köln erstattete bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen fortgesetzten Betrugs und Untreue gegen Unbekannt. Immerhin hatte jener »ehrliche Arzt« eingestanden, die in der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) genossenschaftlich zusammengeschlossenen Kassenärzte erheblich geschädigt zu haben, da er von der Gesamtvergütung, die den KV von den Kassen zugewiesen wird, mehr Honorar erhalten hatte, als ihm bei ehrlicher Honorarberechnung zugestanden hätte.

Der redlichen Interviewerin des unredlichen Arztes dachte die KV zugleich eine Strafanzeige wegen Beleidigung zu - und zwar vorsorglich für den Fall, daß Heddy Neumeister den »ehrlichen Arzt« lediglich um des publizistischen Effekts willen erfunden haben sollte.

Die Autorin war in den folgenden Tagen für niemanden zu sprechen: Sie war nämlich vollauf damit beschäftigt, empörte FAZ-Abonnenten zu besänftigen, die mit Abbestellung des Blattes drohten.

Unterdes lief der berufsständische Fahndungsdienst der Ärzte auf Hochtouren. Der glückliche Zufall, der so oft die kriminalistische Kleinarbeit zum letzten Erfolg führt, war auch den medizinischen Amateurdetektiven hold: Der vermeintliche Hecht ging im »Goldfischteich« zu Wetzlar ins ausgelegte Netz.

Im Wetzlarer Lokal »Am Goldfischteich« wollte sich die Ärzteschaft des Kreises zur »Kampfgemeinschaft« gegen des Ministers Blank soziale Reformexperimente formieren. Auch der praktische Arzt Dr. Karl Wagner aus Krofdorf-Gleiberg bei Gießen gedachte mitzureden. Schließlich war es gerade dieses Thema, das ihn seit Jahren beschäftigte. Seine in der Fachpresse veröffentlichten Beiträge zur Sozialpolitik hatten den Bonner Ministerialrat Dr. Schmatz bewogen, sich der Mitarbeit des Landarztes an den Reformplänen des Blank -Ministeriums zu vergewissern.

Der eigenwillige Krofdorfer Sozialpraktiker war den kampfentschlossenen Standesgenossen schon mehrfach unangenehm aufgefallen. Er hatte nicht nur in einer seiner vielen Veröffentlichungen den Mythos vom guten alten Hausarzt mit der respektlosen Bemerkung untergraben, das sei ein »Mann mit Spitzbart und magischem Getue«, er zählt auch zu den schärfsten Kritikern des »arztfremden Systems« der Krankenversicherung.

Seit anderthalb Jahren prozessiert Wagner gegen die recht sonderbaren »Grundsätze der Honorarverteilung« bei der hessischen KV. Nachdem das Sozialgericht Frankfurt und das Landessozialgericht Darmstadt sich darauf beschränkten, die Klage abzuweisen, weil die »Grundsätze« der KV - einer Körperschaft des öffentlichen Rechts - als autonomes Recht nicht justitiabel seien, steht das Verfahren jetzt am Kasseler Bundessozialgericht zur Entscheidung an.

Was den Dr. Wagner - und nicht nur ihn - gegen diese »Grundsätze« aufbrachte, ist die »kalte Sozialisierung« durch den im Dritten Reich eingeführten Staffeltarif, der dem Gesetz über das Kassenarztrecht (GKAR) vom August 1955 zuwider ist.

Dieser Staffeltarif ist bei den Medizinern unter dem Kennwort »Heckenschnitt« rubriziert. Die - KV vergütet nämlich dem Arzt für Leistungen bis zu 200 Fällen pro Quartal ohne weitere Prüfung je Fall ein Honorar bis zu 16 »Preugomark«. Es kommt also zunächst einmal darauf an, die 200 Fälle zusammenzubekommen. Was über 200 Fälle geht, wird im Honorar drastisch nach unten gestutzt. Dieses merkwürdige Verfahren verleitet nach Dr. Wagner »zu fortgesetztem Mikrobetrug«, weil nicht mehr aufgrund der Leistungen bezahlt wird.

Wohl stimmten ihm aus allen Teilen des Bundesgebiets Ärzte zu. Schrieb einer von ihnen an Wagner: »Bravo! ... die Scheine-Hamster und Ring-Überweiser, die Aufschreiber, die Hausierer, sie alle kriegen es mit der Angst zu tun, und unsere Standesvertretung scheint stark von diesen unterwandert zu sein.«

Die Standesvertretung aber war anderer Meinung über den Revolutionär aus Krofdorf, der als KV-Kreisvorsitzender in Wetzlar fatal tiefe Einblicke in die Abrechnungsmethoden der KV erhalten hatte.

So konnte es nicht ausbleiben, daß scharfsinnige Medizinfunktionäre den Dr. Wagner sofort nach Erscheinen des FAZ-Leitartikels als »ehrlichen Arzt« verdächtigten. Der Krofdorfer Landarzt war denn auch kaum bei der Versammlung im Wetzlarer »Goldfischteich« aufgetaucht, als ihn Kollegen mit der maliziösen Frage überraschten: »Sind Sie der ehrliche Arzt?« Immerhin schien ja der FAZ-Steckbrief zu stimmen: Mit seinen 42 Jahren ist Dr. Wagner ein junger Arzt, und seine wohlüberlegte Diktion läßt sich böswillig als zögernde Sprechweise deuten. Wagner zog sich mit der Gegenfrage aus der Affäre: »Wer könnte es denn sonst gewesen sein?«

Das beiläufige Fragespiel im »Goldfischteich«, das Dr. Wagner für einen Scherz hielt, hatte bemerkenswerte Folgen: Auf stark besuchten Arbeitstagungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

in Bad Nenndorf und in Baden-Baden verkündete der hessische KV-Vorsitzende Dr. Zwecker in aller Öffentlichkeit, daß der »ehrliche Arzt« mit Dr. Karl Wagner aus Krofdorf -Gleiberg identisch sei.

Umgehend ersuchte der diffamierte Dr. Wagner die KV, solchen Unfug künftig zu unterlassen. Indes, Dr. Zwecker redete weiter und scheute sich nicht, seine Ausführungen im vollen Wortlaut in den »Ärztlichen Mitteilungen« zu veröffentlichen.

Wagner beantragte daraufhin beim Landgericht Gießen eine Einstweilige Verfügung gegen Zwecker. Er bereitete damit die Abwehr zweier Verfahren vor, die er auf sich zukommen sah: Die Bundes-KV hatte beim Landgericht Limburg Betrugsanzeige erstattet, die Bundesärztekammer ein Disziplinarverfahren in Gang gesetzt. In dem Glauben, den Schuldigen gefunden zu haben, zogen die Medizin-Funktionäre dafür die Strafanzeige gegen FAZ-Leitartiklerin Neumeister zurück.

Die Richter in Gießen urteilten, KV -Präsident Zwecker habe sich der »rechtswidrigen Ehrverletzung und Existenzgefährdung schuldig gemacht. In dem 16-Seiten-Urteil sezierten sie das kriminelle Tun des von der FAZ vorgeführten »einzelnen Arztes von seltsamer Minderwertigkeit": den fortgesetzten Betrug, das »Pathos, das zusätzlich abstößt«, die »blinde Profitsucht« und die »bemerkenswerte Einfalt«.

Dr. Wagner freilich hatte mit diesem FAZ-Pappkameraden nichts gemein. Leitartiklerin Neumeister bezeugte eidesstattlich: »Der genannte Arzt ist mir vor Veröffentlichung ... überhaupt nicht bekannt gewesen . . .«

Der so forsch vorgepreschte Dr. Zwekker mußte sich von den Richtern ferner belehren lassen, daß der Krofdorfer Landarzt jene im Wetzlarer »Goldfisch« an ihn gerichtete Frage »als schlechten Scherz einer kurzen und beiläufigen Unterhaltung ansehen (durfte)«. Es sei völlig unerfindlich, wie Dr. Zwecker Wagners Witzelei als »Bekenntnis« habe werten können, zumal Dr. Wagner - als der KV-Vorsitzende ihn in seinen Vorträgen als »ehrlichen Arzt« zu apostrophieren begann - in zwei Briefen eine »unmißverständliche Klarstellung« gegeben habe.

Wiewohl Dr. Wagner dem Dr. Zwekker vor den Schranken des Gerichts mit dem großherzigen Angebot, die Sache für erledigt zu erklären, eine goldene Brücke zu bauen bereit war, bestand der KV-Funktionär auf einer bis zum bitteren Ende durchgeführten Verhandlung, in deren Verlauf er mit Glanz unterlag.

Während Sieger Wagner nun die weiteren - strafrechtlichen - Schritte gegen seine Verleumder präpariert, sind die ärztlichen Verbandsfunktionäre mit ihrer Betrugsanzeige gegen den vermeintlichen »ehrlichen Arzt« Dr. Wagner in böser Verlegenheit. Als sie den Schuldigen entdeckt zu haben wähnten, hatten sie die vorsorglich erstattete Beleidigungsklage gegen die Leitartiklerin Dr. Neumeister zurückgezogen.

Da in der gleichen Sache ein zweiter Strafantrag nicht möglich ist, wird es fürderhin das Geheimnis der FAZ -Publizistin bleiben, wer denn nun jener »ehrliche Arzt« wirklich war - falls es ihn überhaupt gibt.

Kassenarzt Wagner

Im Goldfischteich ...

Leitortiklerin Heddy Neumeister

... ein ehrlicher Arzt?

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