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"Es gibt zu viele Ärzte in Deutschland"

Von wegen Medizinermangel: Der AOK-Chef sieht sogar eine Überversorgung. Er plädiert dafür, die Zahl der Praxen zu verringern

Solange sich Ärzte weiter in überversorgten Gebieten niederlassen können, geht kaum einer freiwillig aufs Land

Mediziner, die in überversorgten Gegenden aus Altersgründen aufhören, sollten eine Abfindung bekommen

Seit Monaten geistert das Thema Ärztemangel durch die Öffentlichkeit. Doch es mehren sich die Stimmen, dass es mit mehr Medizinern allein nicht getan ist. Herbert Reichelt, Vorstandschef des AOK-Bundesverbands, vertritt sogar die These, dass wir in Deutschland zu viele Ärzte haben. Sie seien einfach falsch verteilt.

Die Welt: Herr Reichelt, Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler und die Kassenärzte warnen seit einiger Zeit vor einem Ärztemangel. In den nächsten Jahren würden Tausende niedergelassene Ärzte fehlen. Was kann man dagegen tun?

Herbert Reichelt: Ich kann diesen Ärztemangel nicht erkennen. Insgesamt gibt es nach wie vor zu viele Ärzte in Deutschland. Wir haben ein Problem mit ärztlicher Überversorgung.

Die Welt: Aber auf dem Land fehlen Ärzte!

Herbert Reichelt: Das stimmt, es gibt einige wenige Gegenden mit ärztlicher Unterversorgung. Richtig ist aber auch, dass es in Großstädten und in deren Umgebung viel mehr Ärzte gibt, als wir für eine gute Versorgung bräuchten. In Freiburg oder München gibt es mehr als ein Drittel Hausärzte zu viel. Wir haben also ein Verteilungsproblem.

Die Welt: Das hat Röslers Amtsvorgängerin schon gesagt. Daran hat sich aber nichts geändert.

Herbert Reichelt: Man kann den Ärztemangel auf dem Land nur beseitigen, wenn man zugleich die Überversorgung in den Städten verringert. Wir zahlen die Überversorgung mit dem Geld, das wir brauchen, um die Bevölkerung auf dem Land zu versorgen. Solange sich Ärzte weiter in überversorgten Gebieten niederlassen können, geht kaum einer freiwillig aufs Land.

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Die Welt: Die Zahlen, mit denen die Kassenärzte operieren, sind falsch?

Herbert Reichelt: Nein, aber wenn die Kassenärztliche Bundesvereinigung meint, es fehlten bundesweit 3600 Ärzte, dann rechnet sie zu großzügig. So viele Ärzte bräuchte man, um überall in Deutschland die Grenze zur Überversorgung zu erreichen. Das kann nicht der Maßstab sein.

Die Welt: Es gibt unzählige Vorschläge, wie das Problem der Unterversorgung auf dem Land gelöst werden kann. Welcher eignet sich am besten?

Herbert Reichelt: Fast alle. Wir haben aber ein grundsätzliches Problem: Auf dem Land fehlen nicht nur Ärzte, sondern es gibt dort auch immer weniger Kinos oder Tante-Emma-Läden. Wir müssen insgesamt über eine bessere Infrastruktur sprechen. Höhere Honorare für Ärzte allein lösen das Problem also nicht. Man muss kreativ sein.

Die Welt: Bitte!

Herbert Reichelt: Es wäre ein großer Fortschritt, wenn besonders ausgebildete Gemeindeschwestern im Auftrag von Ärzten Hausbesuche machen könnten. Modellprojekte zeigen, dass das bei den Patienten gut ankommt. Das wäre sofort umsetzbar. Zu fragen ist auch, ob die Versorgung dort, wo spezielle Fachärzte fehlen, nicht von Krankenhäusern geleistet werden kann. Das umzusetzen, dauert etwas länger. Ganz generell muss die Planung der ärztlichen Versorgung geändert werden. Sie muss sich stärker am medizinischen Bedarf der Bevölkerung orientieren.

Die Welt: Aber warum geschieht das nicht? Diese Vorschläge sind ja nicht neu.

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Herbert Reichelt: Die Erkenntnis, dass die Versorgung anders geplant werden muss, ist ja jetzt da. Allerdings müssen sich Krankenhäuser, Kassen und Ärzte noch annähern in der Frage, wie das konkret geht - das dauert leider. Wichtig ist mir, dass wir uns stärker an den Bedürfnissen der Patienten orientieren. Der Bedarf an medizinischer Versorgung hängt davon ab, wie alt die Bevölkerung in einer Region ist und welche Krankheiten dort am meisten versorgt werden müssen. Wir brauchen ganz neue Strukturen. Das ist kompliziert.

Die Welt: Schön und gut. Dann haben Sie immer noch das Problem, die Ärzte zu motivieren, aufs Land zu gehen.

Herbert Reichelt: Geld allein hilft nicht. Laut einer Umfrage wünschen sich Ärzte im Durchschnitt 8000 Euro pro Monat zusätzlich, um aufs Land zu ziehen. Das kann keiner bezahlen. Umso mehr müssen wir dafür sorgen, dass die Überversorgung reduziert wird. Das ist schwierig, weil der Praxisverkauf an Nachfolger als ein Baustein der Altersversorgung der niedergelassenen Ärzte gesehen wird.

Die Welt: Könnte man diese Arztsitze nicht aufkaufen?

Herbert Reichelt: In diese Richtung müssen wir auch denken. Das Ziel sollte sein, die Zahl der Praxen in überversorgten Gebieten langfristig zu verringern. Dabei geht es auf keinen Fall darum, Ärzte zu enteignen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Ärzte, die in überversorgten Gebieten aus Altersgründen aufhören, eine Art Abfindung für ihre Praxis bekommen.

Die Welt: Und wer zahlt diese Abfindungen?

Herbert Reichelt: Wir sollten darüber einen Dialog mit den Kassenärztlichen Vereinigungen führen. Dies könnte aus dem bestehenden Honorarvolumen ohne Weiteres finanziert werden, weil ja nach dem Wegfall solcher Praxen deren bisheriges Honorarvolumen dann den verbleibenden Ärzten zugute kommen könnte. Es müsste also kein zusätzliches Geld in die Hand genommen werden.

Die Welt: Die Ärzte werden nicht gerade begeistert sein.

Herbert Reichelt: Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass unser Grundproblem die Überversorgung mit Ärzten ist. 1991 versorgten 304 berufstätige Ärzte 100 000 Einwohner. Davon waren 124 niedergelassene Ärzte. Jetzt sind es 390 berufstätige Ärzte, davon 169 niedergelassene Ärzte. So viel älter und kränker sind die Deutschen nicht geworden.

Die Welt: Das nächste große Projekt des Gesundheitsministers ist die Reform der Pflegeversicherung. Was muss da reformiert werden?

Herbert Reichelt: Wir müssen die Pflegeversicherung nachhaltig finanzieren. Sie ist nicht in akuter Finanznot. Aber die Finanzreserven reichen voraussichtlich nur noch bis Frühjahr 2014. Dann wird es zu einer moderaten Beitragssteigerung kommen müssen. Die Koalition will Teile der Versorgung kapitalgedeckt absichern, da bin ich gespannt auf die Vorschläge. In der Finanzkrise sind ja Zweifel gewachsen, dass ein kapitalgedecktes System Vorteile hat.

Die Welt: Sie sind einverstanden mit der Kapitaldeckung?

Herbert Reichelt: Wenn man eine Kapitaldeckung einführen will, dann muss dies im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung geschehen. Nur so können die Kapitaldeckung, bei der ja jeder für sich spart, und die Umlagefinanzierung, bei der eine Generation für die andere zahlt, zusammen funktionieren.

Die Welt: Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen umfangreicher werden, weil die Pflegebedürftigkeit von Menschen umfassender definiert werden soll. Müssen die Beiträge deshalb steigen?

Herbert Reichelt: Da die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, sind Beitragssteigerungen schon deshalb auf Dauer unausweichlich. Gleichzeitig wollen wir alle Menschen mit Demenz besser versorgen. Auch deshalb braucht die Pflegeversicherung mehr Geld. Aber ich betone: Die Reserven der Pflegekassen reichen bis 2014.

Die Welt: Sollen die Beiträge weiter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu gleichen Teilen finanziert werden? In der Koalition wird diskutiert, diese Parität aufzuheben und den Arbeitgeberteil einzufrieren.

Herbert Reichelt: Ich persönlich fände es sinnvoll, wenn die paritätische Finanzierung der Pflegeversicherung beibehalten würde. Die Beteiligung der Arbeitgeber stärkt das System.

Die Welt: Es gibt Streit um den sogenannten Pflege-TÜV. Zwei kleine Verbände von Pflegeheimbetreibern weigern sich, die Noten für die Heime transparenter zu gestalten. War die ganze Arbeit umsonst?

Herbert Reichelt: Nein. Die Transparenz, die wir durch die Noten hergestellt haben, muss aussagekräftiger werden. Die AOK bietet schon jetzt im Internet die Möglichkeit, die vorhandenen Daten so zu sortieren, dass beispielsweise ersichtlich ist, in welchen Heimen die medizinische Versorgung gut ist. Dass wir deshalb von einigen Heimbetreibern verklagt werden, wundert mich. Dafür habe ich kein Verständnis. Ich glaube, eine größere Transparenz über die Qualität der Heime ist nicht aufzuhalten.

Das Gespräch führte Philipp Neumann

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