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Neuer Arztreport Placebo-Politik füllt deutsche Wartezimmer

Schwarz-gelb streitet über Korrekturen in der Gesundheitspolitik, dabei müsste das ganze System auf den Prüfstand. Wie groß die Mängel sind, enthüllt ein neuer Report: Die Deutschen gehen immer öfter zum Arzt, verursachen so immer höhere Kosten - und bekommen oft abstruse Diagnosen.
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Barmer GEK Arztreport: Die wichtigsten Ergebnisse

Foto: dapd

Hamburg - Knapp acht Minuten - das ist nicht gerade lange. In dieser Zeitspanne laufen im Radio Nachrichten, Wetter und Verkehr - und in deutschen Arztpraxen Anamnese, Diagnose und Therapie. Dann sagt der Mediziner in der Regel auch schon: "Wenn's nicht besser wird, kommen Sie in ein paar Wochen nochmal wieder."

Genau das tut das Gros der Patienten auch. 2008 ging jeder Deutsche durchschnittlich 18,1 Mal zum Arzt - also rund alle drei Wochen. Das ist noch öfter als im Vorjahr und reicht somit erneut zum Weltmeistertitel in der Disziplin Arztbesuche. Fast 1,5 Milliarden waren es zwischen Flensburg und Freising insgesamt.

Diese Zahlen gehen aus dem jüngsten Arztreport der Barmer GEK hervor. Mit diesem Bericht zeichnet die größte Krankenkasse des Landes zwar ein statistisch nüchternes, aber dennoch schonungsloses Bild des Verhältnisses zwischen Patienten und Ärzten in Deutschland. Schließlich dürfte ein direkter Zusammenhang zwischen vollen Wartezimmern und kurzen Behandlungszeiten bestehen.

Allerdings weniger in dem Sinne, dass es in Deutschland zu wenige Ärzte gibt und deshalb dringend mehr Geld ins System gepumpt werden muss, damit wieder alles gut wird. Mediziner, Krankenhausmanager und Pharmareferenten würden sich zwar die Hände reiben - aber sonst würde sich kaum etwas ändern.

Das Gesundheitssystem braucht mehr Steuerung

Das Problem des deutschen Gesundheitswesens ist schließlich weder der Mangel an Geld noch an Doktoren, sondern der an sinnvoller Steuerung. Denn Patienten haben die freie Arztwahl, und Mediziner verfügen über Therapiefreiheit. Das sind im Prinzip hohe Güter, die es zu schützen gilt, sie haben sich allerdings zu einem zentralen Problem entwickelt.

Wozu das Fehlen von Steuerungsinstrumenten im Gesundheitswesen führt, zeigt sich nicht nur an der Tatsache, dass die Deutschen mit mehr als 18 Arztbesuchen pro Jahr sechsmal so häufig einen Doktor aufsuchen wie etwa die Norweger. Auch sind im vergangenen Jahr gerade einmal sieben Prozent der Bevölkerung den Praxen der Republik ganz ferngeblieben. 40 Prozent haben dagegen mindestens vier verschiedene Mediziner aufgesucht.

Weil es unwahrscheinlich ist, dass die Deutschen kränker sind als die Menschen in anderen Nationen oder eher zum Leben als Hypochonder neigen, spricht vieles dafür, dass die Patienten zu Unrecht von Pontius zu Pilatus geschickt werden, sich immer wieder überflüssigen Doppeluntersuchungen unterziehen müssen und angesichts der Vielzahl von Meinungen am Ende nur noch verunsicherter sind.

Was also dringend notwendig wäre, ist ein Lotse, der die Patienten durch das für Laien undurchsichtige System schleust. Diese Rolle müsste der Hausarzt übernehmen, der seine Patienten am besten kennt, und deshalb entscheiden kann, wann ein Besuch beim Facharzt oder eine Überweisung ins Krankenhaus Sinn macht.

Aus einer guten Idee ist Irrsinn geworden

Genau das wird bereits seit Ewigkeiten gefordert. Nicht nur von Politikern jedweder Couleur, sondern auch von Experten. Tatsächlich gibt es aber auf dem Gebiet einer integrierten, abgestimmten Versorgung bislang vor allem Placebo-Politik.

Wie aus einer guten Idee in der politischen Praxis und unter dem Einfluss der Gesundheitslobby Irrsinn wird, zeigt das Beispiel des Hausarztvertrages auf eindrückliche Weise: Eigentlich müssen ihn alle Krankenkassen seit 1. Juli 2009 anbieten. Doch nur die wenigsten sind ihrer Pflicht bislang nachgekommen. Denn die Kassen wurden indirekt gezwungen, die Verträge mit dem Hausärzteverband abzuschließen, dem größten Interessenvertreter der Allgemeinmediziner.

Angesichts seiner Monopolposition in den sogenannten Verhandlungen sieht der Hausärzteverband vor allem die Möglichkeit, höhere Honorare durchzudrücken. Eine bessere Versorgungsqualität spielt in den Gesprächen nur eine untergeordnete Rolle. Das kann man den Ärzten nicht mal vorwerfen, sie verhalten sich rational und wollen das Beste für sich herausholen.

"Es gibt keinen gesunden Menschen, nur schlechte Diagnosen"

Zumal sich Mediziner ungern vorschreiben lassen, was sie wann und wie zu tun haben. Schließlich genießen sie Therapiefreiheit. Diese wirkt allerdings nicht unbedingt kostendämpfend, gilt doch im Gesundheitssystem das Prinzip der angebotsinduzierten Nachfrage: Weil Ärzte einen Informationsvorsprung gegenüber dem Patienten haben, bestimmen sie in der Regel, was gemacht wird.

Und da scheint das Prinzip weit verbreitet zu sein, das Ärzte gerne mal mit ironischem Unterton zum Besten geben: "Es gibt keine gesunden Menschen, nur schlechte Diagnosen."

Denn bei einem Blick auf die Statistiken des Barmer GEK Arztreports könnte man meinen, die Deutschen seien ein Volk von psychisch labilen Rückenkranken mit Bluthochdruck. So diagnostizierten Ärzte im vergangenen Jahr bei fast 42 Millionen Personen Krankheiten des Bewegungsapparates, 24 Millionen wiesen psychische und Verhaltensstörungen auf. Jeder dritte Einwohner litt unter Hauterkrankungen und ein Viertel der Bevölkerung unter Bluthochdruck.

Gerade einmal acht Prozent der Deutschen erhielten im vergangenen Jahr gar keine Diagnose - aber bei der Hälfte wurden mehr als sieben Erkrankungen dokumentiert. Jeder dreißigste Patient schleppt sogar 31 und mehr Diagnosen mit sich herum. Das sind ziemlich umfangreiche medizinische Erkenntnisse für eine durchschnittliche Behandlungszeit von nicht einmal acht Minuten.

Im Norwegischen gibt es kein Wort für "Hörsturz"

Insofern trägt auch jeder eine eigene Verantwortung: Würden die Deutschen weniger zum Arzt gehen, hätten diese entsprechend mehr Zeit für ihre Patienten. Und wahrscheinlich würde das Gefühl, dass einem mal einer richtig zuhört, das Wohlgefühl weiter steigern und die Anzahl der Besuche in den Praxen würde weiter zurückgehen.

Vielleicht wollen die Deutschen das aber auch gar nicht. Ein Allgemeinmediziner, der lange in Norwegen gearbeitet hat, beschrieb den Unterschied zwischen dem nordischen und dem hiesigen System vor einigen Jahren einmal mit den Worten: "Der Norweger entfernt sich die Zecke selber, weil er nicht durch wohlmeinende Ratgeber verunsichert wird. Er vertraut darauf, dass Pfeifgeräusche im Ohr nach ein paar Tagen Pause wieder verschwunden sind. Für die Krankheit 'Hörsturz' gibt es im Norwegischen gar kein Wort - also auch keine Besorgnis."

Dann verwies der Mediziner noch auf ein Schild, das in den Wartezimmern einiger norwegischer Allgemeinärzte hängt: "Vorsicht: Sie verlassen Ihre persönliche Lebenswelt. Wenn Sie jetzt das Gesundheitswesen betreten, fragen Sie Ihren Arzt nach Nebenwirkungen und Risiken."