Dieses Haus dürfte es gar nicht geben. Zumindest, wenn man der Logik der landesweit streikenden Ärzte folgt. Hier nörgelt niemand über unbezahlte Arbeitsstunden, die Mitarbeiter stöhnen nicht über ausufernde Bürokratie, kein Arzt meint, er verdiene zu wenig. Im Polikum im Berliner Stadtteil Friedenau arbeiten 40 Mediziner zufrieden unter einem Dach – in demselben Gesundheitssystem, das ihre Kollegen in den Ausstand treibt.

Von außen wirkt das Gebäude wie ein normales Ärztehaus, in dem sich einige Kassenärzte zusammengefunden haben, um sich die Geräte zu teilen. Aber die 40 Mediziner sind keine selbstständigen Unternehmer, wie es dem traditionellen Rollenverständnis der Ärzte entspricht. Sie sind Angestellte. Das Polikum ist ein Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ). Und holt damit ein Stück DDR zurück in die bundesrepublikanische Gegenwart: die Poliklinik. Dort arbeiteten früher Fachärzte aller Art, sie waren für die ambulante Versorgung zuständig. Nach dem Fall der Mauer wurden die Polikliniken abgewickelt, die ärztlichen Standesorganisationen des Westens verteidigten erfolgreich ihr System der Einzelpraxen. Es war die vorübergehende Rettung des alten deutschen Ideals vom unternehmerischen Arzt, dem jeder Einfluss durch den Staat ein Gräuel ist. Doch was die Ärzte über einhundert Jahre am meisten fürchteten, holt sie jetzt ein. Halbgötterdämmerung.

Überall in Deutschland streiken Zehntausende Klinikärzte, an ihrer Seite, scheinbar solidarisch, gehen auch die niedergelassenen Ärzte auf die Straße. Es ist eine paradoxe Kombination. Denn während die Klinikärzte zum ersten Mal massenhaft für ihre Arbeitnehmerrechte fechten, verteidigen die niedergelassenen Ärzte ihr Unternehmertum. Diese Einzelkämpfer-Existenz wiederum ist vielen Klinikärzten fremd geworden: Sie kämpfen nicht für die eigene Praxis, sondern – wie andere Angestellte auch – für mehr Freizeit und mehr Geld.

Es ist das Ende des Mythos vom Arzt als charismatischem Heiler, der ganz allein, mit heroischem Arbeitseinsatz und kraft seiner akademischen Weihen die Kranken kuriert. Den jungen Ärzten erscheinen heute gute Arbeitsbedingungen und Teamwork viel lohnender. Und ausgerechnet die wieder entdeckten Strukturen der DDR ermöglichen ihnen das. So könnte der Streik der Ärzte am Ende viel mehr bringen als nur eine Neuregelung der Arbeitszeit in den Krankenhäusern: Erstmals könnten die verkrusteten Strukturen im deutschen Gesundheitssystem wirklich aufbrechen.

Erst im Herbst hat das Polikum eröffnet, doch schon jetzt ist klar, wie viel straffe Strukturen den Patienten und Ärzten bringen können. "Wir haben dramatisch weniger Papierkram", sagt die Internistin Susanne Schwarz, die Gründungsmitglied ist. Die Ärzte müssten viel weniger telefonieren, wenn ein Patient von verschiedenen Kollegen im Haus behandelt wird – jeder Arzt hat Einblick in die zentrale elektronische Akte. Im Bedarfsfall werden Krankengymnasten, Wundspezialisten, eine Psychologin oder eine Podologin, Spezialistin für die Pflege schlecht durchbluteter Füße, zu Rate gezogen. Die Patienten schätzen das, immerhin müssen sie nicht mehr quer durch die Stadt von einem Facharzt zum anderen fahren.

Die Wartezimmer sind nüchtern und klein, die Patienten müssen ohnehin nicht lange warten. Jedes Sprechzimmer ist nur 16 Quadratmeter groß: ein geschwungener Tisch, eine Untersuchungsliege, ein Waschbecken, die Wände schmucklos weiß. "Ein Mitarbeiter hat nach Orange gefragt", sagt Susanne Schwarz, "aber das passt nicht ins Konzept. Jedes Sprechzimmer wird maximal genutzt und sollte deshalb auch für andere Kollegen akzeptabel sein."

Im ganzen Haus stehen nur zwei Ultraschallgeräte. "Normalerweise hätte jeder zweite Arzt hier ein eigenes", sagt Stephan Kewenig, ein Gastroenterologe, "und die stehen dann nur rum und werden nicht ausgelastet." Auch Kewenig entschied sich für das Angestelltenverhältnis in diesen effizienteren Strukturen, im Krankenhaus hielt ihn nichts mehr. "Nach zehn Jahren musste einfach mal Schluss sein", sagt er. Er habe immer mehr Arbeit für immer weniger Geld leisten müssen. "Dort herrscht ein aufgeplustertes und ineffizientes System", so der Arzt. "Jeder verteidigt mit aller Macht das, was er hat. Die Strukturen verändern sich nur sehr langsam. Das ist extrem unerfreulich."