Absagen von Wahlkampfauftritten: Erdogan kontert mit Vorwurf von "Nazi-Praktiken"

"Deutschland sollte wissen, dass seine gegenwärtigen Handlungen sich nicht von denen in der Nazi-Zeit unterscheiden. Sie sind verstört, wenn wir das sagen"

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Wahlkämpfe werden gegenwärtig zu irren Spektakeln, man könnte eine Chipstüte nach der anderen aufreißen. Überall große Kino-Worte. In Frankreich kündigt ein berüchtigter Selbstdarsteller aus dem Lager des konservativen Kandidaten und offenkundigen Heuchlers Fillon, der wegen einer Affäre, die viel Geld in die Taschen seiner Familie spülte, bei den Umfragen im Sinkflug ist, aber stur an seiner Kandidatur festhält, einen "Putsch" gegen den Unbelehrbaren an.

In den USA hört der neue Präsident Trump nicht auf, immer wieder auf das zu setzen, was ihm im Wahlkampf zuverlässig Publikumsbegeisterung einbrachte, kurze, harte Beschimpfungen der Gegner. Ob kritische Medien, die Justiz oder der Amtsvorgänger - sie bekommen knallig eins auf die Nase. Obama sei schlimm, böse, vielleicht sogar krank, twitterte Trump. Der Grund seines Vorwurfs: heimliche und heimtückische Manöver mit Geheimdienstbeteiligung, für die Trump bislang die Beweise schuldig bleibt (vgl. Überwachung: Trump attackiert Obama).

Der türkische Präsident ist ebenfalls in einer Art Wahlkampf - er braucht Zustimmung für das Referendum zur Ausweitung seiner Machtbefugnisse -, auch er mag Beschimpfungen, die Eindruck hinterlassen. In Deutschland waren es lange Zeit Nazi-Vergleiche. Ob das noch einen Effekt ausübt? Erdogan versucht es.

Er ist wütend über die Absagen von Wahlkampfauftritten seiner Minister in Deutschland.

Die Absagen ließen, wie es Peter Nowak an dieser Stelle formulierte (vgl. Showdown Erdogan gegen Merkel nützt beiden Regierungen), an einen Verweis auf die "Straßenverkehrsordnung" denken. Sie wurden mit ordnungsrechtlichen Begründungen abgesagt. Vor einer klaren politischen Haltung scheuten deutschen Vertreter zurück.

Das nahm Erdogan zum Anlass Beschimpfungstext zu sprechen, wie man ihn in Deutschland in dieser Direktheit der Anklage von Staatsmännern seit vielen Jahren nicht gewohnt ist: Er verglich die Absagen mit Aktionen aus der Nazi-Zeit, wie die englisch-sprachige Hurriyet-News berichtet.

In seiner Rede am heutigen Sonntag in Istanbul warf er Deutschland demzufolge vor, dass das Land "keine wie auch immer geartete Beziehung zur Demokratie" habe:

Deutschland sollte wissen, dass seine gegenwärtigen Handlungen sich nicht von denen in der Nazi-Zeit unterscheiden. Sie sind verstört, wenn wir das sagen. Warum seid ihr verstört?

Erdogan

Es sei ein Irrtum gewesen anzunehmen, dass Deutschland diese Nazi-Praktiken schon vor einer langen Zeit hinter sich gelassen habe, wird der türkische Präsident weiter zitiert: "Ihr belehrt uns über Demokratie, aber dann verbietet ihr Ministern unseres Landes, dass sie bei euch öffentlich reden."

Dem von ihm gewünschten Erfolg beim Referendum zum Präsidentialsystem werde das nichts anhaben, die "Ja"-Stimmen würden überwiegen, beschwor Erdogan, auch wenn die Ja-Stimmung in der Türkei weniger stark ist, als von ihm gewünscht, was vermutlich zu seiner Verärgerung beiträgt. Jedenfalls gelten die Türken, die ihm Ausland leben, derzeit als Adressaten von reisenden Regierungsvertretern, die dort die Stimmen holen sollen, die im Inland möglicherweise fehlen.

Auch in den Niederlanden versucht man "mit allen Mitteln" einen Wahlkampfauftritt des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoğlu in Rotterdam verhindern. Alle rechtlichen Möglichkeiten würden untersucht, berichtet die österreichische Zeitung Der Standard von der niederländischen Regierung.

Auch sie wurde von Erdogan kritisiert ebenso die österreichische Regierung, deren Kanzler Kern sich für ein EU-weites Verbot von Wahlkampfauftritten türkischer Politiker ausgesprochen hat.

Der türkische Justizminister Bekir Bozdağ, dessen Auftritt von der Stadt Gaggenau untersagt wurde (wegen mangelnder Paktplätze, großem Andrang und "weil die Situation zu gefährlich werden könnte", Bürgermeister Michael Pfeiffer), ist laut Hurriyet davon überzeugt, dass die Order dazu entweder von der deutschen Regierung oder von Geheimdiensten kam.