ADHS ist keine Castingshow.

Die Buchstaben stehen für eine psychische Erkrankung, durch die ständig Aufruhr herrscht: alles jetzt, hier, schnell und ohne Filter. Konzentriert bleiben und in Ruhe nachdenken? Fehlanzeige! ADHS bringt Träume zum Platzen und macht das Leben zum Spießrutenlauf. Betroffen sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Als Psychiater hilfst du ihnen, im Alltag weiterzukommen und ihre Talente freizulegen.

Interview

Es ist, als würden ihnen überall Hindernisse in den Weg gelegt: ADHS führt bei Erwachsenen dazu, dass sie immer wieder scheitern, immer wieder Dinge anfangen und diese immer wieder abrechen. In ihrem Leben gibt es keine Struktur, keinen Plan, kein Durchatmen – und daran können sie verzweifeln. Doch mit den richtigen Bausteinen lässt sich ADHS bändigen. Wie das geht, erzählt die Psychiaterin Alexandra Philipsen von der Uniklinik der Karl-Jaspers-Klinik in Oldenburg im Interview. Sie gehört zu Deutschlands Top-Experten, wenn es um ADHS geht.

Frau Philipsen, kaum spricht man über ADHS, fällt auch gleich der Begriff „Zappelphilipp“. Wird er der Krankheit gerecht?
Nein, das klingt zwar griffig, aber greift viel zu kurz. Denn damit wird nur die motorische Unruhe beschrieben, die sich vor allem bei Jungs beobachten lässt und die im Laufe des Lebens in der Regel abnimmt. Im Erwachsenenalter stehen Konzentrationsschwierigkeiten und Probleme mit der Alltagsorganisation im Vordergrund.

Was ist ADHS eigentlich?
Genau genommen handelt es sich um eine Entwicklungsstörung. Bei ADHS sind bestimmte Regelkreise im Gehirn gestört, die beim Ordnen der Gedanken und beim Steuern von Motivation, Aufmerksamkeit und Aktivität eine entscheidende Rolle spielen. Dabei gerät auch die Regulierung der Botenstoffe durcheinander, so dass die Informationsübertragung zwischen den Hirnregionen nicht mehr richtig funktioniert. Weil auch die Signalübertragung nicht genügend gehemmt wird, entsteht auch ein Informationsüberschuss. Die Folge: Menschen mit ADHS können sich nicht mehr konzentrieren oder haben Probleme strukturiert zu denken.

ADHS betrifft also nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene?
Ja, wir gehen davon aus, dass etwa die Hälfte der Kinder mit ADHS die Symptome ins Erwachsenenalter mitnimmt.

Wann kommen die Patienten zu Ihnen in Behandlung? Was haben Sie bis dahin schon erlebt?
Die Patienten sind ca. Mitte dreißig und haben schon viele Weichen in ihrer Lebensplanung gestellt – z. B. was die Berufswahl oder die Familiengründung angeht. Hinter den meisten liegt ein langer Leidensweg, weil sie in ihrem Alltag immer wieder gescheitert sind. Viele fühlen sich als Versager und wissen nicht, dass ADHS der Grund für ihre Probleme ist. Die Krankheit ist ein ständiger Störenfried in ihrem Leben, den sie ohne professionelle Hilfe nicht mehr loswerden.

Was sind die typischen Symptome? Wann treten diese auf?
ADHS kann sich bei Erwachsenen ganz unterschiedlich zeigen. Typisch sind massive Aufmerksamkeitsprobleme, vor allem bei Routinetätigkeiten. Dazu kommen Schwierigkeiten beim Kontrollieren der eigenen Impulse und eine große innere Unruhe. Außerdem leiden die Betroffenen oft unter starken Stimmungsschwankungen. All das wirkt sich auf ihren Alltag aus. Menschen mit ADHS fällt es schwer, ihrem Leben Struktur zu geben. Sie wirken planlos, chaotisch, unkonzentriert.

Wie können Sie ADHS als Psychiaterin diagnostizieren?
Wichtig ist, dass ich mich auf meine Patienten einlasse und mit ihnen in eine therapeutische Beziehung trete.

„Ich kann nicht einfach einen Blutwert bestimmen oder ein Röntgenbild machen.“

Grundlage für eine sichere Diagnose ist eine ausführliche und systematische Befragung der Patienten. Hier geht es auch um die Entwicklungs- und Familiengeschichte, denn ADHS ist innerhalb einer Familie oftmals kein Einzelfall. In der Spezialambulanz arbeiten wir bei der Diagnosestellung mit standardisierten Fragebögen, um die Symptome strukturiert zu erfassen und den Verlauf besser beurteilen zu können. Dazu kommen testpsychologische Untersuchungen und Verhaltensbeobachtungen. Außerdem müssen wir andere psychische und körperliche Erkrankungen ausschließen, die zu einer ähnlichen Symptomatik führen können wie etwa Schilddrüsenerkrankungen.

Was sind die Ursachen?
Wir wissen heute, dass die Entstehung von ADHS von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. ADHS tritt familiär gehäuft auf: Die Gene spielen also eine ganz erhebliche Rolle, nach neuen Studien ist ADHS bis zu 70 Prozent erblich bedingt. Trotzdem sind auch andere Einflussfaktoren wichtig: z. B. Umweltfaktoren oder Komplikationen und Belastungen während der Schwangerschaft. Frühgeborene haben ein erhöhtes Risiko, an ADHS zu erkranken.

Wie können Sie den Betroffenen helfen?
Ich stelle immer wieder fest, dass schon die Diagnose einer ADHS bei vielen Betroffenen zu einer großen Entlastung führt. Sie wissen dann endlich, dass die Probleme in ihrem Leben eine Ursache haben – und dass sie nicht nur einfach chaotisch, faul und egozentrisch sind. Deshalb kläre ich meine Patienten sehr ausführlich über das Krankheitsbild und die Therapiemöglichkeiten auf – wir Fachleute nennen das Psychoedukation. Die Therapie muss sich ganz individuell auf jeden einzelnen Patienten ausrichten. Wie ausgeprägt ist die ADHS? Zu welchen Schwierigkeiten führt sie im Alltag? Welche Ressourcen hat der Patient? Was sind seine Wünsche? Erst wenn diese Fragen geklärt sind, können wir mit der Therapie beginnen, die sich immer aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzt.

„In den meisten Fällen lässt sich die ADHS in den Griff bekommen.“

Als wirksam erweisen sich bestimmte psychotherapeutische Verfahren, z. B. die Verhaltenstherapie. Gleichzeitig stehen uns als Ergänzung auch Medikamente zur Verfügung, welche die Botenstoffe im Gehirn wieder ins Gleichgewicht bringen.

Sie meinen Ritalin? Das Medikament ist ja in der Bevölkerung umstritten.
Ritalin gibt es seit den fünfziger Jahren. Die Frau des Erfinders Dr. Panizzon hieß Marguerite kurz „Rita“. Ritalin wurde damals in der Tat recht unkritisch eingenommen. Dies hat sich in der Bevölkerung festgesetzt. Der Wirkstoff Methylphenidat gehört zu den Stimulantien, unterliegt inzwischen der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung und ist zur Behandlung der ADHS zugelassen, das heißt, die Abgabe ist sehr kontrolliert.

Immer unter Strom stehen und aktiv sein muss doch wahnsinnig anstrengend sein. Birgt ADHS noch weitere Risiken?
Die Betroffenen haben ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Suchterkrankungen und Angststörungen. Auch körperliche Erkrankungen wie Adipositas und deren Folgen sind häufig. Aus Studien geht hervor, dass ADHSler ohne Behandlung – statistisch gesehen – früher sterben. Die häufigste Todesursache sind Verkehrsunfälle, weil sie eine erhöhte Risikobereitschaft haben und gleichzeitig die Reaktionsfähigkeit beeinträchtigt ist.

Warum beschäftigen Sie sich so intensiv mit ADHS?
Klinisch und neurobiologisch gesehen ist ADHS eine faszinierende Verhaltensauffälligkeit. ADHS im Erwachsenenalter war in Deutschland bis vor wenigen Jahren noch kein Thema und praktisch unerforscht, so dass sich hier viele Forschungsansätze zu Ursache und Behandlung ergaben.

„Der Hauptgrund sind aber die Patienten: ihre Lebhaftigkeit und Kreativität sind auch inspirierend.“

Welche Herausforderungen ergeben sich im Behandlungsalltag?
Die größte Herausforderung ist es, die Patienten zu ermutigen, ihre Behandlung auch fortzuführen. Vorzeitige Therapieabbrüche sind für ADHS leider typisch. Und leider sind die Wartezeiten in den Ambulanzen zur Diagnostik noch viel zu lang.

Wann haben Sie sich entschieden, Psychiaterin zu werden und warum?
Schon früh im Studium habe ich mich für die Neurowissenschaften interessiert. Mein PJ-Wahlfach habe ich in der Neurologie absolviert, meine Doktorarbeit habe ich in der Neuropädiatrie verfasst. Letztlich waren es aber die Patienten, die mein Interesse an der Psychiatrie weckten. Als Psychiaterin kann ich mich dem ganzen Menschen widmen. Jede Lebensgeschichte ist einzigartig. Gleichzeitig stellt das Gehirn uns noch viele unbeantwortete Fragen.

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Lexikon

Jeder ist mal unkonzentriert, abgelenkt oder von einer Idee angefixt. Bei ADHSlern ist das Dauerzustand: Ihre Gedanken springen von einem Einfall zum anderen und zerbröseln im Kopf, noch bevor sie sie zu fassen kriegen. Dafür können sie sich stundenlang für Ideen begeistern. Sie kommen zu spät, verlieren ihr Geld oder ihre Schlüssel und vergessen wichtige Termine. ADHS macht den Alltag zu einem ständigen Hürdenlauf.

Lange galt die Krankheit als eine, unter der vor allem Kinder und Jugendliche leiden. Fakt ist aber, dass die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung auch Erwachsene plagen kann – und das nicht selten:

Rund zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sind betroffen.

Das Tückische an ADHS im Erwachsenenalter: Das Krankheitsbild ist sehr komplex, die Symptome äußern sich ganz unterschiedlich und nehmen im Lauf des Lebens neue Formen an.

Was macht ADHS aus?
Psychiater haben drei Kernsymptome identifiziert, die für ADHS typisch sind: Aufmerksamkeitsstörung, Impulsivität und Hyperaktivität. Bei Kindern und Jugendlichen sind diese oft sehr gut spürbar. Sie lassen sich leicht ablenken, können sich nicht auf ihre Aufgaben konzentrieren, machen Flüchtigkeitsfehler, sind ungeduldig, fuchteln ständig mit Händen und Füßen herum oder rutschen auf dem Stuhl hin und her.

Auch bei Erwachsenen mit ADHS sind diese drei Anzeichen noch immer vorhanden – doch anders ausgeprägt. So haben die meisten inzwischen gelernt, sich ihrem sozialen Umfeld anzupassen. Die körperliche Rastlosigkeit hat nachgelassen. An ihre Stelle rückt eine wachsende innere Unruhe. Was das bedeutet? Die Betroffenen stehen ständig unter Strom, fallen einem zum Beispiel immer ins Wort, sind extrem ungeduldig, müssen ständig herumlaufen oder herumspielen. Gleichzeitig besteht die Aufmerksamkeitsstörung unverändert fort:

Die Betroffenen können sich nicht auf eine Sache konzentrieren.

Vor allem wenn es um Themen geht, die sie nicht wirklich interessieren, weichen die Gedanken ganz schnell ab. Oder das Gegenteil ist der Fall: Ihre Gedanken verweilen obsessiv bei einem Einfall, umkreisen ihn immer und immer wieder, als gäbe es nicht anderes auf der Welt.

Welche Auswirkungen hat das?
Die Unfähigkeit, äußere Reize auszublenden, der ständige Bewegungsdrang, die fahrigen Gedanken, Ungeduld, Abgelenktheit und Unruhe – all das wirkt sich auf den Job und das Privatleben aus. Erwachsene ADHSler scheitern oft an ihren Aufgaben, es kommt zu Konflikten mit Vorgesetzten und Kollegen. Zuhause herrscht das Chaos, private Verabredungen werden vergessen, Versprechungen nicht eingehalten, Spannungen und Streit sind an der Tagesordnung. Für Kinder und Erwachsene kann das einen langen Leidensweg bedeuten.

Sie nehmen sich selbst als Versager wahr.

Selbstwertprobleme und Ängste und depressive Verstimmungen sind häufig die Folge. Erhalten die Betroffenen die richtige Diagnose, ist es für die meisten ein befreiendes Gefühl.

Was steht bisher fest?
Die Ursachen und Entstehungsmechanismen von ADHS sind noch nicht vollständig geklärt. Forscher gehen davon aus, dass eine Vielzahl einzelner Einflussfaktoren eine Rolle spielen: genetische Vorbelastung, Komplikationen und Belastungen während der Schwangerschaft sowie soziale und familiäre Bedingungen. Um ADHS sicher zu diagnostizieren, müssen Psychiater deshalb die Symptome sehr gründlich abklären, denn der Grat zwischen normalem Chaos und psychischer Erkrankung ist schmal. Neben einer umfassenden Anamnese und Verhaltensbeobachtungen kommen auch neurologische und testpsychologische Untersuchungen zum Einsatz. Manchmal ist es auch notwendig, die Hirnströme zu messen oder Blutwerte zu bestimmen.

Was kann man tun?
Das Chaos im Kopf lässt sich mit der richtigen Therapie aber in den Griff bekommen. In der Regel besteht eine Behandlung aus verschiedenen Bausteinen, welche die Psychiater auf die Bedürfnisse der Betroffenen abstimmen. Ganz wichtig ist zunächst eine gründliche Information über ADHS, bei der auch Lebenspartner, Eltern, Geschwister, Freunde, oder Kollegen einbezogen werden können.

Manchmal kann schon eine einfache Beratung helfen, die Lebensqualität wieder zu verbessern.

Als sehr wirksam erweisen sich auch verschiedene Formen der Psychotherapie. Im Mittelpunkt steht meistens eine Verhaltenstherapie, mit deren Hilfe die Betroffenen lernen, die durch ADHS verursachten Probleme und Schwierigkeiten zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Dazu werden in den Sitzungen gemeinsam Strategien entwickelt, die dann im Verlauf der Therapie im Alltag geübt und ausgefeilt werden. Auch bestimmte Medikamente können helfen, ADHS in den Griff zu bekommen. Diese zielen darauf ab, im Gehirn das Gleichgewicht der Nervenbotenstoffe wiederherzustellen, das durch die Krankheit gestört wird. Der bekannteste Wirkstoff heißt Methylphenidat. Wie alle anderen Medikamente können auch Psychopharmaka Nebenwirkungen haben. Psychiater warnen deshalb davor, die Wirkstoffe ohne ärztliche Aufsicht einzunehmen.

ADHS ist nur eine von vielen psychischen Erkrankungen, die du als Psychiater behandelst. Welche anderen Krankheitsbilder am häufigsten vorkommen, haben wir für dich in unserem Überblick zusammengestellt. 

Du möchtest mehr über das Krankheitsbild erfahren? Fundierte Informationen findest du hier:

Interview

Würde man einen Film drehen, in dem ADHS die Hauptrolle spielt, liefe alles im Zeitraffer ab. Aber nicht chronologisch, denn es gäbe immer wieder Zeitsprünge und Cliffhanger. Am Ende käme ein wildes Roadmovie dabei heraus, das den Zuschauer reizüberflutet zurücklässt. So geht es auch der Hamburger Social-Media-Redakteurin Kathrin Weßling, bei der kürzlich die ADHS-Diagnose gestellt wurde. Wie es ist, mit der Krankheit zu leben, die Konzentration, Geduld und Entspannung fast unmöglich macht, erzählt sie im Interview.

Wie war dein Leben, bevor du wusstest, dass du ADHS hast?
Es war MEIN Leben – womit ich meine, dass sich Dinge ja nicht schlagartig ändern, nur, weil man eine Diagnose bekommt. Ich sehe mich auch nach der Diagnosestellung nicht als ADHS im Sinne von „Ich BIN diese Störung“. Sie betrifft einige Teile meines Seins, Fühlens und Denkens und andere nicht. Sie definiert mich nicht, sie ist nicht mein Charakter. Aber die Diagnose hat viele Fragen geklärt, die mein Leben an mich gestellt hat und die sich für mich nie richtig beantworten ließen. Mein Leben war vorher also einfach mit sehr viel mehr Fragezeichen versehen als es das heute ist.

Wie würdest du die Symptome beschreiben?
Die Symptome von ADHS oder ADS sind ja mannigfaltig und komplex und besonders: bei jedem ganz anders. Bei mir sind ganz typische Symptome extrem ausgeprägt und wieder welche, die nicht jeder hat, auch. Zu den typischen gehören: Ich bin körperlich und psychisch immerzu extrem angespannt und unruhig. Ich kann kaum still sitzen und schlafen ist ein großes Problem. Ich kann mich sehr schwer konzentrieren (mit Medikamenten geht es mittlerweile aber extrem gut) und brauche viele Hilfsmittel, um durch den Alltag zu kommen – ich muss mir sehr strenge Regeln und Mechanismen auferlegen, um strukturiert zu bleiben und das Chaos im Griff zu halten. Ich bin unfassbar unpünktlich und ich habe überhaupt kein Zeitgefühl.

„Für mich ist immer jetzt gerade oder für immer.“

Tage ziehen sich gefühlt Wochen, dann wiederum vergesse ich ganze Monate. Ich bin vergesslich. Ich muss mir einfach alles aufschreiben. Und ich habe große Mühe mit der Regulation meiner Impulse. Hinzu kommen aber auch schöne Dinge: Mein Denken ist unglaublich vielschichtig und passiert immer auf mindestens zehn Ebenen gleichzeitig. In vielen Dingen bin ich schneller und kreativer als die meisten. Ich denke sehr assoziativ und ungewöhnlich. Mein Gehirn ist wie Kirmes eben – das ist die meiste Zeit unglaublich anstrengend und schwierig, aber es ist auch manchmal ein großes Geschenk.

„Mein Gehirn ist wie Kirmes.“

Wann wurde schließlich die Diagnose gestellt und wie kam es dazu?
Die Diagnose habe ich erst mit 30 bekommen. Da hatte ich schon zehn Jahre lang zig andere Diagnosen gestellt bekommen (endogene Depression, Borderline, etc.), aber keine Therapie, keine Medikamente halfen. Es ging mir durchgängig schlecht, gut ein Drittel meines Lebens ist durch Krisen und Depressionen verschwendet. Irgendwann wusste ich: Das darf so nicht weitergehen. Ich muss endlich verstehen, was los ist. Als ein guter Freund, der mir sehr ähnlich ist, von seiner Diagnose erzählte, hatte ich endlich den Mut, mich auch testen zu lassen. Ich hatte unglaublich Angst, weil ich dachte: Ich bin mir so sicher, dass es das ist, ich fühle das seit Jahren und es würde so viel erklären – aber was, wenn es das doch nicht ist und ich immer noch mit all den Fragezeichen und wirkungslosen Medikamenten da stehe? Ich hab mich irgendwann dann doch getraut, weil ich musste. Weil es so nicht weitergegangen wäre.

Hat sich dadurch etwas für dich verändert?
Erst einmal musste ich damit klarkommen, dass ich zehn Jahre lang falsch diagnostiziert und behandelt wurde. Das war nicht einfach. Zu sehen und zu merken, was zum Beispiel Amphetamine mit meinem Gehirn machen, war erstaunlich: Plötzlich war ich ruhig, konzentriert, habe mich selber überhaupt mal wahrgenommen. Da denkt man schon manchmal: Warum erst jetzt? Warum musste ich 30 Jahre lang so leiden, wenn die Lösung doch so einfach ist? Dann merkt man irgendwann: Medikamente allein helfen auch nicht. Aber man weiß plötzlich, wo eigentlich genau die Ursachen sind und welche Problemstellungen sie einem mitgeben. Und man kann ganz anders an sich arbeiten. An dem Punkt bin ich ein Jahr später immer noch. Lösungen finden.

Bei ADHS denken die meisten an einen zappeligen Jungen, der nicht ruhig sein kann – aber nicht an eine erwachsene Frau. Woran meinst du, liegt das?
Weil ADHS eben lange als Kinderkrankheit galt. Was so grotesk ist, denn das würde ja bedeuten, dass in unseren Genen unser 18. Geburtstag gespeichert ist und wenn der da ist, zack, bumm, geheilt. Geil. Auch heute ist es noch unglaublich schwierig, als Erwachsener offen damit umzugehen. Es gibt 1000 Vorurteile und Verschwörungsverschwurbler, die behaupten, ADHS sei halt eh nur ausgedacht. Bei diesen Leuten kriege ich literally Gewaltfantasien. Die haben offenbar null Ahnung, wie sehr Kinder und Erwachsene darunter leiden können und wie viel es helfen würde, wenn ihnen früh genug geholfen wird. Als Erwachsener musste ich mir schon anhören, dass ich ja nur Drogen (Ritalin, Amphetamin) auf Rezept haben will (niedliche Vorstellung: es ist so viel komplizierter und aufwendiger und teurer, auf diesem Weg an Medikamente zu kommen, als sich illegal irgendwas zu besorgen, das nur mal nebenbei), dass ADHS nur ausgedacht ist, etc. bla bla.

Dass fast immer kleine Jungs als Sinnbild für ADHS herhalten müssen, liegt in der Natur der Störung: Jungs sind öfter hyperaktiv, haben also ADHS, Mädchen wird früh beigebracht, nicht unangenehm aufzufallen, bei ihnen richtet sich die Unruhe und Anspannung nach innen, sie entwickeln also eine ADS.

Was sind ADHS-Symptome und was gehört zum Charakter? Hast du dir diese Frage schon einmal gestellt und wie ist die Antwort, die du für dich darauf gefunden hast?
Die Eine-Million-Dollar-Frage. Alles formt ja den Charakter: die Gene, Umweltfaktoren, Sozialisierung, Bildung, Umfeld, etc. Und natürlich auch eine Störung wie ADHS. Aber einen Diabetiker würde man ja auch nicht fragen: Hast du das jetzt gemacht, weil das du bist oder wegen deiner Diabetes? Was ich damit meine: Die ADHS beeinflusst selbstverständlich mein Leben, mein Sein, mein Denken.

„Aber ich bin so viel mehr als das. Und nicht alles ist ADHS.“

Am Ende ist es mir auch egal und ich versuche eher, die Probleme, die daraus resultieren, zu lösen, als mich in den Nimbus dieser Überlegung zu werfen. Da kommt man nämlich nie wieder raus, glaube ich. Und es ist doch auch gleichgültig, ob man so schnell redet, so unpünktlich ist, so unkonzentriert oder emotional instabil, weil man ADHS hat – oder man eben einfach so ist. Wichtig ist mir nur, dass ich die Dinge, die ich regeln und verbessern kann, angehe. Und alle anderen akzeptiere.

Du gehst sehr offen mit dem Thema um. Was passiert dann?
Ach, bei mir war eigentlich niemand überrascht. Mein ganzer Freundes- und Bekanntenkreis ging, insofern ihnen ADHS bekannt war, eh davon aus, dass ich darunter leide. Es war so etwas wie eine Tatsache, über die man nicht spekulieren musste, für sie. Allen anderen hat es wie mir ein paar Fragen beantwortet, die sie sich immer mal wieder gestellt haben.

Problematisch sind eher die Medikamente. Die meisten Menschen denken, Ritalin oder Amphetamine seien „Beruhigungspillen“. Die wissen nicht, dass bei ADHS Aufputschmittel das Gegenteil bewirken und uns ruhiger machen. Wenn sie erfahren, dass ich im Grunde Artverwandte von Speed nehme und Unmengen an Koffein brauche, um konzentriert und ruhig zu sein, erfordert das immer viel Erklärung und Aufklärung. Und einige verstehen es am Ende trotzdem nicht und denken, ADHSler ziehen sich schön den ganzen Tag Drogen rein.

Wie funktioniert dein Leben mit ADHS? Was hat dir in der Behandlung am meisten geholfen?
Geholfen hat am meisten, Antworten zu haben. Am zweitmeisten hilft, dadurch mehr Verständnis für mich selber zu haben und etwas netter zu mir sein zu können. Wenn man ständig zu spät kommt, obwohl man schier alles dafür tut, dass es nicht passiert; wenn man ständig überreizt und überfordert ist; wenn man so ein Chaos in sich trägt – dann hilft vor allem zu wissen, woher das kommt. Und dann Strategien und Lösungen deshalb zu finden, die WIRKLICH helfen und die individuellen Schwächen und Probleme berücksichtigen.

„Geholfen hat am meisten, Antworten zu haben.“

Warst du bei einem Psychiater in Behandlung?
Ja. Bin ich auch noch.

Hast du eigene Strategien, wie du mit dem Chaos in deinem Kopf umgehst? Welche sind das?
Ich trage einfach ALLES in meinen Smartphone-Kalender ein. Jede Kleinigkeit. Alles. Weil ich es sonst vergesse oder 8 Verabredungen an einem Tag habe. Ich fotografiere außerdem alles. Damit ich weiß, wann was wo mit wem war. Das hilft mir, zeitliche Dimensionen besser einordnen zu können. Ich mache mir außerdem Wochenpläne mittlerweile. Weil ich weiß, dass ich mich meistens eh nicht an genaue Uhrzeiten halte, plane ich großzügig oder setze mir einfach Wochenziele. Wann ich die schaffe, ist mir egal. Ich muss sie nur eben bis zum Ende der Woche erledigt haben. Außerdem versuche ich, regelmäßig Ausdauersport zu machen (klappt so semi) und ausreichend zu schlafen. Das alles hilft schon sehr und ich bin in diesem einen Jahr wesentlich organisierter, zuverlässiger und produktiver geworden.

Was macht Dir an ADHS am meisten zu schaffen?
Die Anspannung. Ich bin einfach nie richtig, richtig müde, dafür aber ständig erschöpft. Dass ich meinen Kopf nicht einfach runterfahren kann wie andere macht mich immer noch irre. Ich brauche manchmal 4,5 Stunden, um einzuschlafen. Oft schlafe ich gar nicht. Ich nehme aber seit einem halben Jahr keine Medikamente mehr, die meinen Schlaf regulieren oder bei Anspannung helfen – weil ich das selber hinkriegen will. Es ist sehr anstrengend für mich, mich nie mal so richtig entspannen zu können.

Kathrin Weßling ist Autorin, Journalistin und Social-Media-Expertin. 

Links:
www.kathrinwessling.de