Psychische Krankheiten

Ex-Patienten helfen in der Psychiatrie

Menschen, die psychische Krisen erfahren und durchlebt haben, helfen AkutBetroffenen als Genesungsbegleiter in alltäglichen Fragen weiter. Rund 1000 ehemalige Patienten haben inzwischen eine entsprechende Ausbildung im deutschsprachigen Raum absolviert. Wie auch Anna B. und Hakan A. aus Berlin.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:

BERLIN. Die junge Frau hatte plötzlich schreckliche Wahnvorstellungen und schien in ihrer eigenen Welt gefangen. Anna B. ängstigte das nicht. Sie blieb einfach bei der Patientin, die immer wieder davon erzählte, dass sie verfolgt werde. "Während der akuten Psychose habe ich vor allem zugehört und erst mal alles angenommen, was sie gesagt hat", erzählt sie. Dass sich Anna B. von dem verwirrten Reden der Patientin nicht abschrecken ließ, hat einen Grund: Sie hat selbst auch schon unter einer akuten Psychose gelitten und weiß, wie sehr einen die eigenen Ängste einnehmen können. 2009 verbrachte die damals freiberuflich tätige Künstlerin mehrere Monate in einer Psychiatrie. Heute arbeitet Anna B. dort als "Genesungsbegleiterin".

Die Idee, ehemalige Psychiatrie-Patienten zu Experten in eigner Sache zu machen, geht auf eine vor Jahren gestartete Initiative zurück. Damals haben Fachkräfte, Wissenschaftler und Betroffene im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes die einjährige "EX-IN"-Ausbildung entwickelt. Die Abkürzung steht für das englische "Experienced-Involvement" und bedeutet "Einbeziehung Psychiatrie-Erfahrener". Ziel war es, Menschen, die selbst schwere psychische Krisen überwunden hatten, zu qualifizieren, damit sie den Akut-Betroffenen später als Vorbilder und zugleich als Ansprechpartner weiterhelfen können.

Vorbedingung: Eine eigene Krise

Ihre zentrale Aufgabe ist es, jenen Menschen, die gerade tief in einer psychischen Krise stecken, wieder Hoffnung auf Genesung zu geben sowie deren Mut zur Eigenverantwortung zu stärken. Das wichtigste Handwerkszeug ist dabei die eigene durchlebte Erfahrung.

Die ersten Kurse haben 2005 der Bremer Fortbildungsträger F.O.K.U.S. und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) organisiert. Jörg Utschakowski, Diplom-Sozialarbeiter und Psychiatriereferent des Landes Bremen, hat gemeinsam mit Gyöngyvér Sielaff, Pädagogin und Psychologin am UKE, die Ausbildung in Deutschland damals auf den Weg gebracht und konzeptionell weiterentwickelt.

Kursangebote auch für Angehörige

Inzwischen gibt es in Hamburg auch weitere Fortbildungsangebote, die sich speziell an Angehörige von psychischen kranken Menschen richten. "In unserer Gesellschaft haben es Menschen, die durchlässig und nicht so belastbar sind, eher schwer. Wer dann noch in eine Krise kommt, fühlt sich schnell von der Gesellschaft abgeschrieben", sagt Sielaff.

Bei der Ausbildung zum Genesungsbegleiter ist das Gegenteil gesetzt: "Der Bewerber muss selbst eine sehr tief gehende psychische Krise erlebt haben, um sich überhaupt für die Qualifizierung bewerben zu können. Damit wird das, was ehemalige Psychiatrie-Patienten oft in der Arbeitswelt erleben, regelrecht auf den Kopf gestellt", sagt Sielaff.

Genau dieser Ansatz ist es, der auch Anna B. besonders geholfen hat: "Der Fokus in der Ausbildung liegt nicht darauf, die Erkrankung als einen Makel, sondern als Teil einer Genesungsgeschichte anzusehen. Die Krise wird darüber ein Teil des eigenen Lebens", sagt die 42-Jährige heute.

In ihrer akuten Phase fehlte ihr häufig das Vertrauen, wenn Ärzte und Pflegende ihr Hoffnung machten. "Ich hatte das Gefühl, dass sie mich nur aufmuntern wollen. Die Berichte der anderen Patienten habe ich damals als eindrücklicher und glaubhafter empfunden", sagt sie.

Insgesamt umfasst die Qualifizierung zum Genesungsbegleiter zwölf Module mit rund 300 Unterrichtsstunden sowie zwei Praktika in psychiatrischen Einrichtungen. Zentral ist dabei, zunächst die eigene Krankengeschichte zu reflektieren, anschließend eine andere Perspektive auf diesen Lebenseinschnitt entwickeln zu können und sich darüber auch mit anderen Kursteilnehmern auszutauschen.

Anna B. hat nach ihrer akuten Depression in einer Selbsthilfegruppe von der Ausbildung erfahren. Mittlerweile können sich krisenerfahrene Menschen an 32 Standorten im deutschsprachigen Raum zum Genesungsbegleiter ausbilden lassen. Rund 1000 Absolventen gibt es mittlerweile, schätzt Werner Holtmann, Vorstand des Vereins "Ex-In Deutschland".

Der Verband war 2011 gegründet worden, um die Qualitätsstandards der Ausbildung zu sichern. Etwa jeder Zweite der rund 220 Absolventen in Hamburg arbeitet inzwischen in der ambulanten oder stationären psychiatrischen Versorgung.

Gyöngyvér Sielaff erlebt dabei die ambulante psychiatrische Versorgung als deutlich offener für neue Konzepte als den stationären Sektor: "Der Handlungsspielraum an den psychiatrischen Kliniken ist begrenzt", sagt sie. Direkt am UKE gebe es inzwischen sieben feste Stellen für Genesungsbegleiter.

Frau mit Wahnvorstellungen

Anna B. arbeitet seit gut zwei Jahren in der psychiatrischen Klinik der Berliner Charité. Ihre Stelle wird im Rahmen des Home-Treatments über einen Vertrag zur Integrierten Versorgung finanziert. Sie arbeitet im Tandem zusammen mit einer Psychologin oder einer Fachkrankenschwester und steht den Patienten als Ansprechpartnerin zur Seite.

Wie beispielsweise jenem schwer depressiven Mittfünfziger, den massive Schuldgefühle plagten. Er kam einfach nicht darüber hinweg, dass er aufgrund seiner Erkrankung erst mal nicht arbeiten konnte. Oder jenem kritischen Patienten, der sich den Ärzten und Pflegern auf der Station einfach nicht anvertrauen konnte. Und eben auch jener jungen Frau mit den Wahnvorstellungen. "Die Patientin hat mir im Nachhinein erzählt, wie wichtig es für sie war, dass ich an ihrer Seite geblieben bin", erzählt Anna B. heute.

Ein Teil des Klinik-Teams

Auch Hakan A. hatte 2011 eine akute Depression. Fünf Monate lang war er damals in einer psychiatrischen Klinik. Seit gut drei Jahren geht er an drei Tagen pro Woche in das Berliner Hedwig-Krankenhaus – freiwillig, denn auch er hat sich zum "Genesungsbegleiter" fortbilden lassen. Die Kosten von knapp 2000 Euro hat er aus eigener Tasche gestemmt. "Das war eine wertvolle Erfahrung", sagt er.

Heute macht er das, was er als zutiefst sinnvoll empfindet: "Es ist eine Aufgabe, die für mich auch Berufung ist."

Der typische Arbeitstag beginnt für ihn so wie für alle anderen im Klinik-Team: In der Übergabe werden die wichtigsten Informationen zu den verschiedenen Patienten ausgetauscht und überlegt, wer heute eine besondere Unterstützung brauchen könnte.

Der Flur als Arbeitsplatz

Danach geht Hakan A. dann an seinen "Arbeitsplatz" und der ist – ganz anders als bei Anna B. – der Flur der Station. "Ich warte dort, stehe für Gespräche bereit oder biete mich einzelnen Patienten an, sie beispielsweise bei einem genehmigten Ausgang zu begleiten", berichtet der 44-Jährige. Seine Chefin Dr. Christiane Montag, leitende Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus, schätzt die Arbeit der "Genesungsbegleiter". Auf Stationen seien sie wertvolle "Erklärer für beide Seiten": Um Hakan A. fest anzustellen, wurden unter anderem Finanzmittel des Personalbudgets umgesteuert – eine Entscheidung, die angesichts knappen Klinikkassen nicht leichtgefallen sei. "Wenn das Geld keine Rolle spielen würde, würde ich auf jeder Station mindestens einen Genesungsbegleiter anstellen", sagt sie.

Vor seiner Erkrankung war Hakan A. als gelernter Kaufmann mit einem Online-Handel selbstständig. Mittlerweile arbeitet er nicht nur als Genesungsbegleiter, sondern hat sich auch zum Mediator, Heilpraktiker und gesetzlichen Betreuer weitergebildet. Es liegt ihm, auf die Betroffenen zuzugehen, sich als Gegenüber anzubieten, in ganz praktischen Dingen zu helfen oder einfach nur zu zuhören: "Immer geht es auch um die Würde des Patienten. Dessen Intellekt und Gespür sind ja durch die Erkrankung nicht eingeschränkt."

Viele positive Erfahrungen

Im Umgang mit den akut erkrankten Patienten hat er "zu 90 Prozent positive Erfahrungen" gemacht, erzählt Hakan A.: "Es ist etwas völlig anderes, wenn diese Menschen mit ehemals Betroffenen sprechen", sagt er. Der Grund: "Ihre Erzählungen und ihr Verhalten sind uns nicht so fremd wie dies bei professionellen Kräften der Fall ist".

Lesen Sie dazu auch: Interview: "Auf Augenhöhe mit den Professionellen"

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