Schluss mit Up-Coding: Bundestag verbietet „kränker machen“ von Patienten per Gesetz

Susanne Rytina

Interessenkonflikte

28. Februar 2017

Krankenkassen oder Ärzte dürfen sich nicht durch unzulässige Beeinflussung von Diagnosen finanzielle Vorteile verschaffen – so der Beschluss des Bundestages im Rahmen des Gesetzes zur Stärkung der Heil- und Hilfsmittelversorgung [1]. Die Praxis des „Up-Codings“ wurde damit ausdrücklich verboten.

„Der Morbi-RSA ist in Verruf gekommen, weil Kassen Ärzte bezahlt haben, damit die Krankheitslast größer wird“, sagte der SPD-Politiker Prof. Dr. Karl Lauterbach bei der Beschlussfassung im Bundestag. „Das ist ein Betrug zwischen den Krankenkassen und brandgefährlich für die Versicherten.“

Risiko für Versicherte

Diagnosen der Patienten waren verschlimmert worden, um an höhere Zuweisungen aus dem Gesundheitsfond Morbi-Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) zu kommen. Kassen versuchten, konkret auf die Diagnosekodierung von Ärzten Einfluss zu nehmen, indem so genannte Betreuungsstrukturverträge abgeschlossen wurden oder Kodierberater der Kassen Diagnosen nachträglich veränderten (wie Medscape berichtete).

Das Risiko: Der Patient erhalte eine Diagnose, die er gar nicht habe, trage sie dann zum nächsten Arzt und werde möglicherweise deswegen falsch behandelt, so Lauterbach. Die Kodierpraxis von Kassen und Ärzten habe zur Diskreditierung des Risikostrukturausgleichs und zur Gefährdung der Patienten beigetragen, betonte er.

Der Morbi-RSA sei generell ein sinnvoller Ausgleich für die Kassen, in denen besonders viele ältere und kranke Patienten versichert seien, so Lauterbach. Er werde künftig weiter ausgebaut. „Dafür muss das System sauber sein und darf nicht missbraucht werden“, betonte Lauterbach.

 
Der Morbi-RSA ist in Verruf gekommen, weil Kassen Ärzte bezahlt haben, damit die Krankheitslast größer wird. Prof. Dr. Karl Lauterbach
 

Der Jurist Gerhard Schulte, Vorstandsmitglied der „Gesellschaft für Recht und Politik im Gesundheitswesen (GRPG) hält die Entgelte für Kodierungen schon nach geltendem Recht für rechtswidrig, wie er gegenüber Medscape betont. „Wenn es aber Zweifel gibt, dann ist es gut, dass der Gesetzgeber es klargestellt hat, so Schulte.

Durch das Up-Coding sieht er eine weitere negative Folge für den Patienten im Versicherungsbereich. Es könne sein, dass er seinen Versicherungsschutz verliere, wenn Jahre später der Versicherungsfall eintrete und die Versicherung aufgrund der fälschlich gestellten Diagnose davon ausgeht, dass der Patient dies wissentlich verschwiegen habe.

Die Krankenkassen werden künftig gesetzlich zur Mitwirkung bei der Aufklärung von Zweifelsfällen verpflichtet. Verweigern sie dies, kann die Aufsichtsbehörde, das Bundesversicherungsamt, ein Zwangsgeld von bis zu 10 Millionen Euro verhängen. Schon in der Vergangenheit hat das Bundesversicherungsamt in Einzelfällen Strafgelder verhängt.

Haftung für Vorstände statt Belastung von Versicherten?

Gesundheitsexperte Schulte kritisiert hier, dass das rechtswidrige Verhalten einer Kasse und die Verhängung von Zwangsgeldern auf dem Rücken der Versicherten in einer Kasse ausgetragen werden. „Die Zwangsgelder treffen die Beitragszahler und nicht die Verantwortlichen. Ich bin der Meinung, man hätte darüber nachdenken können, ob man die Vorstände in die Haftung nimmt. Das würde mehr abschrecken“, meint Schulte, Ministerialdirektor a.D. im Bundesgesundheitsministerium und ehemaliger Vorstandvorsitzender einer gesetzlichen Krankenkasse.

Der Deutsche Hausärzteverband begrüßte es in einer Pressemitteilung, dass die Praxis unterbunden wird, zusätzliche Vergütungen an die Ärzte für bestimmte Kodierungen zu zahlen. „Die Betreuungsstrukturverträge leisten keinerlei Beitrag zur Verbesserung der Patientenversorgung“, betont der Bundesvorsitzende Ulrich Weigeldt. Trotzdem hätten die Krankenkassen jedes Jahr hunderte Millionen Euro investiert. Er befürwortete es, dass der Gesetzgeber dieser Praxis einen Riegel vorgeschoben hat, da das Geld an anderer Stelle gebraucht werde. 

 
Die Zwangsgelder treffen die Beitragszahler und nicht die Verantwortlichen. Man hätte darüber nachdenken können, ob man die Vorstände in die Haftung nimmt. Gerhard Schulte
 

Gleichzeitig weist er daraufhin, dass diese Regelung auf die Hausarztzentrierte Versorgung keine Auswirkung habe, bei denen nicht die Dokumentation bestimmter Diagnosen vergütet werde, sondern der Betreuungsaufwand.

Genau dies sehen Kassenvertreter als weitere Manipulationsanreize zer Beeinflussung der Kodierung, weil pauschale Vergütungen für die Behandlung und den Behandlungsumfang bestimmter Krankheitsbilder vereinbart werden können. Dies hatte der Bundesverband der Innungskrankenkassen (IKK) in einer Experten-Anhörung wenige Tage vor dem Bundestagsbeschluss laut einer Pressemeldung des Bundestages moniert.

Wenn die Kassen solche Krankheitsbilder auswählten, für die es Zuschläge aus dem Morbi-RSA gebe und die Behandlung bei vollständiger Kodierung zusätzlich vergütet werde, sei die Wirkung identisch mit dem Effekt der Betreuungsstrukturverträge.

Ebenso befürchtete die Verbraucherzentrale Bundesverband bei der Anhörung, dass die Kassen auf Selektivverträge ausweichen, wenn die bisherigen Regelungen in Gesamtverträgen untersagt werden.

Auch der Gesundheitsexperte Schulte denkt, dass ein Anreiz bestehen kann, Zusatzvergütungen für die Ärzte für die Betreuung zu vereinbaren – innerhalb des Spektrums von rund 80 Krankheiten, die im Morbi-RSA berücksichtigt werden. „Wahrscheinlich ist der besondere Aufwand eigentlich der, der ohnehin bei dieser Diagnose stattfinden müsste.“ Dahinter könnte auch die Erwartung der Kassen stehen, dass die Ärzte entsprechend diagnostizieren.

 
Es wäre sehr sinnvoll, solche verbindlichen Kodier-Richtlinien einzuführen, wie sie für den stationären Bereich auch üblich sind … Gerhard Schulte
 

Verbindliche Kodier-Richtlinien gefordert

Sowohl die Kassen als auch der Verbraucherzentrale-Bundesverband forderten die Einführung verbindlicher ambulanter Kodier-Richtlinien. Ferner müssten Selektivverträge begutachtet, beaufsichtigt und veröffentlicht werden, um die Mittelverschwendung und Verzerrungen über das Up-Coding zu verhindern. Bislang sind solche Verträge vertraulich.

„Es wäre sehr sinnvoll, solche verbindlichen Kodier-Richtlinien einzuführen, wie sie für den stationären Bereich auch üblich sind, dann wäre eine Kontrolle auch leichter“, meint Gesundheitsexperte Schulte. Allerdings sei dies in Vergangenheit am Widerstand der niedergelassenen Ärzte gescheitert, mit dem Hinweis des bürokratischen Mehraufwands und einer Umstellung in der Praxis-Software.

Kassen: Regionale Besonderheiten berücksichtigen

In seiner Pressemitteilung ging der Verband der Ersatzkassen e.V. (VDEK) nicht auf das unzulässige Up-Coding ein, sondern sprach sich gemeinsam mit den Betriebs- und Innungskrankenkassen für grundlegende Reformen des Morbi-RSA aus. Fehlstellungen führten seit Jahren zu Wettbewerbsverzerrungen, die zulasten der Versicherten gingen. Im Jahr 2015 habe die Unterdeckung bei den Ersatzkassen minus 644 Millionen Euro betragen, während andere Krankenkassen eine Überdeckung von über einer Milliarde Euro aufgewiesen habe, kritisierte der VDEK.

„Die Ersatzkassen begrüßen, dass die Politik mit dem Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz (HHVG) auch die Weichen für die dringend notwendigen Reformen des Morbi-RSA stellt“, so Ulrike Elsner, Vorstandsvorsitzende des Verbands der Ersatzkassen e. V. (vdek). Daher begrüße man den Beschluss des Bundestags, dass künftig Regionaldaten erhoben werden, welche die unterschiedlichen Kosten für die Versorgung in unterschiedlichen Regionen darstellen. Diese Forderungen habe man auch in der Expertenanhörung gestellt und sie seien berücksichtigt worden.

 

REFERENZEN:

1. Bundestag: Neue Vorschriften für die Heil- und Hilfsmittel­Versorgung beschlossen, 16. Februar 2017

Kommentar

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