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Cyberchondrie Die Todesangst klickt mit

Wie besessen fahnden Cyberchonder im Netz nach passenden Diagnosen - und geraten dabei vom Harmlosen zum Tödlichen
Wie besessen fahnden Cyberchonder im Netz nach passenden Diagnosen - und geraten dabei vom Harmlosen zum Tödlichen
© Colourbox
Ob Schwindel oder Kopfschmerzen: Im Internet findet sich zu jedem Symptom eine passende Krankheit. Für Hypochonder im Cyberspace kann das gefährlich werden.
Von Sylvie-Sophie Schindler

So richtig ernst nimmt Leonie keiner mehr. Und Leonie weiß das. Deshalb spricht sie mit ihren Freunden längst nicht mehr über das, was sie wirklich quält. "Ich habe einfach keine Lust mehr, mir anzuhören, dass ich übertreibe", sagt die 28-Jährige. Einmal warf ihr eine Kollegin sogar vor, sie, Leonie, würde bewusst eine "Show" abziehen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Der Grund? Leonie hatte ihr erzählt, dass sie einen Gehirntumor und nur noch wenige Wochen zu leben habe.

Nichts Neues, denn die Münchnerin hatte schon x-mal behauptet, schwer krank zu sein. Unter anderem vermutete sie bei sich Multiple Sklerose, Brustkrebs, Leukämie. Tatsächlich aber, so sagen die Mediziner, fehlt ihr nichts. Stellt sich Leonie bei Ärzten vor, antworten die: "Was wollen Sie denn hier? Sie sind vollkommen gesund." Leonie aber glaubt ihnen kein Wort. "Ich muss doch nur ins Internet gehen, dann stoße ich schnell auf ein Krankheitsbild, das auf mich zutrifft", sagt sie.

"Wie besessen"

Täglich ist sie zwei, manchmal drei oder vier Stunden online und klickt sich durch medizinische Foren und Gesundheitsseiten. Eigentlich wollte sie erstmal nur Hinweise finden, die sie wieder beruhigen. "Ich wusste ja, dass ich irgendwas habe. Nur was?", sagt sie. "Die Ärzte quatschten nur blöd rum. Und ich hatte Angst. Ich musste mir unbedingt Hilfe holen." Inzwischen fahndet sie im Internet "wie besessen" nach einer Diagnose. Leonie sagt: "Ich kann einfach nicht anders, ich suche regelrecht nach Hinweisen, die darauf hindeuten, dass ich ernsthaft erkrankt bin." Ein Verhalten, das inzwischen gar nicht mehr so selten ist. Experten sprechen von Cyberchondrie - einer Art "modernen" Hypochondrie.

Das Internet ist eine wahre Fundgrube für Menschen, die zu Krankheitsängsten und Hypochondrie neigen. Man muss ja nur, oft meist harmlose, Symptome wie Kopfschmerzen und Fingerkribbeln in die Suchmaschinen eingeben - und nach nur wenigen Klicks landet man bei schwerwiegenden Leiden wie Hirnhautentzündung oder Multipler Sklerose. "Wer nicht nur Informationen sucht, sondern anfällig ist für Krankheitsängste, findet im Internet schnell seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt", sagt Maria Gropalis. Die Diplom-Psychologin forscht an der Universität Mainz über Hypochondrie. Sie weiß: "Das Internet alleine macht keinen Hypochonder. Aber es kann ängstliche und hypochondrische Neigungen verstärken." Zwischen 600.000 und 800.000 Menschen in Deutschland leiden an Hypochondrie, knapp acht Millionen machen sich übermäßige Sorgen um ihre Gesundheit. Und das Internet trägt nicht unbedingt zur Beruhigung bei.

Das Internet - eine Quelle der Angst

"Wenn man im Netz anfängt zu suchen, wird man sehr schnell verunsichert", sagt Gropalis. Denn, und das ist die Krux, man bekomme dort keine eindeutigen, sondern sehr ambivalente Informationen. Mal beruhigende, mal beängstigende. Kein Wunder: Neben zahlreichen fundierten Auskünften gibt es im Netz jede Menge unsinnige, ja sogar gefährliche Tipps von Laien. "Vor allem in Foren findet man zu den jeweiligen Symptomen natürlich die dramatischsten Geschichten", sagt Gropalis. Das Internet sei, so betrachtet, eine regelrechte Quelle der Angst. "Der Wunsch nach Beruhigung geht in der Regel nach hinten los. Man wird süchtig danach."

Wissenschaftlich ist "Cyberchondrie" kein feststehender Begriff. Geprägt wurde er von dem US-Psychiater Brian Fallon. 90 Prozent aller hypochondrisch veranlagten Menschen werden ihm zufolge durch das Internet zu Cyberchondern. "Das ist fast ein natürlicher Prozess", meint er. In medizinischen Fragen wird das Netz ohnehin immer wichtiger. Statt zum Arzt zu gehen oder in Gesundheitslexika nachzuschlagen, gehen rund 55 Prozent der Deutschen erstmal online, wenn sie sich krank fühlen. Das besagt zumindest die Studie "E-Health-Trends in Europe". Europaweit sind die Deutschen damit ganz weit vorne: Hinter den Norwegern und Dänen liegen sie der Studie zufolge auf Rang drei.

Die Gedanken "kreisen um den Tod"

Natürlich leider nicht jeder, der sich über Krankheitssymptome im Internet informiert, gleich an Cyberchondrie. Doch wer kein medizinisches Fachwissen hat, kommt bei der Flut der Informationen ins Schleudern. Schnell ist eine Fehldiagnose gestellt. Oder man stößt auf Krankheiten, von denen man vorher noch nie gehört hatte. Der Weg, sich vom Harmlosen zum Schlimmeren und von dort zum Schlimmsten zu klicken, ist typisch - nicht nur bei krankheitsängstlichen Menschen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Softwareherstellers Microsoft, die sich mit dem Phänomen Cyberchondrie befasst. Protokoll-Dateien zeigen, dass beispielsweise der Suchbegriff "Kopfschmerzen" viel häufiger mit einem Gehirntumor in Verbindung gebracht wurde - und nur selten mit plausibleren Ursachen wie dem Trinken von zu wenig Flüssigkeit. Ein weiteres Problem: Über seltene Krankheiten lässt sich im Netz viel häufiger etwas finden, als es ihrem Vorkommen entspricht.

Dass ein Symptom harmlos sein könnte, auf diese Idee kommt Leonie überhaupt nicht mehr. "Ich wachte morgens mit eingeschlafenen Armen oder Beinen auf", erzählt sie. "Sofort suchte ich im Internet nach einer Erklärung. Ziemlich schnell hatte ich das Ergebnis: ein Gehirntumor." Schlimm sei auch die Zeit gewesen, als sie fest davon überzeugt war, an Multipler Sklerose zu leiden. "Ich informierte mich bereits über Rollstühle." In den Urlaub fährt Leonie überhaupt nicht mehr. Zu groß ist die Sorge, das Hotel könnte zu weit entfernt sein vom nächsten Krankenhaus. Neben dem Job bleibt kaum Zeit für Hobbys und Freunde - meist sitzt sie vor dem PC, surft im Netz. "Auch ein Testament habe ich bereits geschrieben", verrät Leonie. Nachts könne sie kaum schlafen. "Meine Gedanken kreisen immer wieder um das Sterben."

Echte Symptome, falsche Interpretation

Übertrieben? Hysterisch? Auf Außenstehende mag es oft so wirken. "Das ist keine Spaßkrankheit." Was andere vielleicht amüsiert, ist für die Betroffenen eine große Qual", sagt Gropalis. "Sie schämen sich, fühlen sich nicht ernst genommen. Doch die Symptome sind ja nicht eingebildet. Sie sind da, werden aber falsch interpretiert." Von Hypochondrie spricht man, wenn die Krankheitsangst länger als sechs Monate bestehen bleibt, obwohl medizinische Befunde sagen, dass alles in Ordnung ist. Das gilt auch für die Cyberchondrie. Heißt also: gefährdet ist, wer über mehrere Monate nicht loskommt von der Idee, krank zu sein und täglich mehrere Stunden im Internet nach Erklärungen für Symptome sucht.

Hilfe kann eine kognitive Verhaltenstherapie bringen. Hier sucht man nach neuen Lösungswegen. Unter anderem wird erarbeitet, wie man seine Angst vor Krankheiten in den Griff bekommt. Gropalis schlägt eine Kombination aus Gruppen- und Einzelsitzungen vor. "Wir setzen direkt am Hier und Jetzt an, dort, wo die Patienten leiden", erklärt die Expertin. "Das führt bei allen zu einer leichten Besserung, zwei Dritteln geht es sogar deutlich besser."

Leonie weiß auch, dass es so nicht weitergehen kann. Sie besucht seit zwei Monaten eine Selbsthilfegruppe. "Wir haben festgestellt, dass jeder schon mal gedacht hat, mindestens einmal an einem Gehirntumor erkrankt zu sein", erzählt sie. "Eigentlich wären wir alle längst tot."

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