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»Wollen wir den Aids-Staat?«

Bayerns Linie: Zwangstest, Berufsverbot, Ausweisung *
aus DER SPIEGEL 10/1987

Mit einem beispiellosen »Maßnahmekatalog«, beschlossen am Mittwoch vergangener Woche, will die bayrische Staatsregierung die Ausbreitung von Aids stoppen - und hat damit den Streit um eine sinnvolle Bekämpfung der Immunschwächekrankheit auf einen neuen Höhepunkt getrieben.

Was Bayern will ("Bild": »Gesetz zum Fürchten"), stößt auf einhelligen Widerstand in Bonn und in den Bundesländern. Doch der Vorstoß des Freistaats bringt die anderen Regierungen in Zugzwang: entweder nachzuziehen oder gegenzuhalten. Die Gesundheitsminister aus Bund und Ländern haben, Ende März in Bonn, reichlich Stoff für ihre Sondersitzung.

Unstrittig ist ein Bündel von Vorhaben, mit denen die bayrische Bevölkerung über die Aids-Risiken aufgeklärt und Infizierten geholfen werden soll. Ähnliches praktizieren oder planen die Behörden auch schon anderswo.

Daß der Südstaat die Bereitschaft zum freiwilligen Aids-Test fördern will - »vorrangig sollten sich Schwangere, Soldaten und alle Personen, denen Blut abgenommen wird, dem Test unterziehen« -, stößt nicht auf Widerspruch. Daß mit einer neuen Hygieneverordnung verschiedene Berufsgruppen wie »Tätowierer, Ohrlochstecher und Akupunkteure« schärfer kontrolliert werden sollen, hat bisher keine Kritik ausgelöst.

Mit der Bonner Koalition konform gehen die Bayern, wenn sie eine Berichtspflicht der Aids-Labore über Infektions-, Todes- und Erkrankungsfälle für ein zentrales Register vorschlagen. Nach den Bundesplänen sollen auf einem »Erhebungsbogen« folgende Daten Infizierter an das Berliner Institut für Klinische und Experimentelle Virologie gemeldet werden: Alter und Geschlecht, die ersten beiden Ziffern der Postleitzahl des Wohnorts, Anlaß der Untersuchung, Risikogruppe, klinische Symptomatik.

Politiker außerhalb Bayerns, Mediziner, Ärzteverbände und Aids-Berater lehnen aber geschlossen ab, was der Freistaat »zum Schutz der Bevölkerung« sonst noch an »sachlich notwendigen und rechtlich vertretbaren Maßnahmen ergreifen« will.

»Ab sofort« sollen in Bayern von allen zuständigen Behörden »vor allem Ansteckungsverdächtige« zum Aids-Test »vorgeladen« werden. Bleiben die Geladenen weg, »veranlaßt die Gesundheitsbehörde die Aufenthaltsermittlung und Vorführung durch die Polizei«.

Wer als »ansteckungsverdächtig« gilt, bestimmt Bayern: etwa wer nachweisbar bei Anbahnungsgesprächen mit Homosexuellen oder Strichjungen erwischt, nur beobachtet oder schlicht denunziert wird; wer sich an Orten aufhält, an denen Prostituierte ihrem Gewerbe nachgehen. Ist danach ein Bürger als Aids-Kranker oder als mit dem Aids-Virus (HIV) Angesteckter erst einmal identifiziert, gibt es kein Entrinnen mehr: *___Berufsverbote werden für »HIV-positive männliche und ____weibliche Prostituierte« erlassen. *___Infizierten ist es untersagt, »Blut, Samen und Organe ____zu spenden": sie sind »verpflichtet, behandelnde Ärzte ____sowie Intimpartner »über ihren Zustand »aufzuklären«. *___Verstöße gegen »diese und andere Anordnungen« werden ____"unter voller Ausschöpfung des Rahmens geahndet«- ____Polizei und Staatsanwaltschaft sind »angewiesen«, ____bewußtes oder fahrlässiges »Infizieren anderer als ____schwere Straftat mit Nachdruck zu verfolgen«. *___Rotlicht-Betriebe wie Bordelle und Homosexuellen-Treffs ____können amtliche Auflagen erhalten oder gleich ____geschlossen werden.

Bayern geht noch weiter: *___Ausländer bekommen, sind sie HIVpositiv, keine ____Aufenthaltserlaubnis; von Zugereisten aus ____Nicht-EG-Staaten wird eine »Gesundheitsuntersuchung ____verlangt«. *___Jeder Strafgefangene und Untersuchungshäftling muß bei ____Beginn und Ende seiner Haftzeit zum Aids-Test. *___Die obligatorische Einstellungsuntersuchung für ____Bewerber des öffentlichen Dienstes wird um einen ____Aids-Test erweitert.

Was den Bund und alle anderen Bundesländer von Bayern unterscheidet macht ein Wort des bayrischen Schulministers Hans Zehetmair über die Homosexuellen deutlich. Am 19. Februar sagte er in einer Sendung des Bayerischen Fernsehens: »Es kann nicht um noch mehr Verständnis für Randgruppen gehen, sondern nur darum, sie auszudünnen ... Diese Randgruppe muß ausgedünnt werden, weil sie naturwidrig ist.«

Seit letzter Woche ist klar, daß die Bayern Bonn und die Bundesländer in den Überwachungsstaat drängen wollen. Der Bayern-Katalog, so der Münchner Innenminister August Lang, sei »ein Auftrag an die Koalitionspartner in Bonn«; sein Kabinettskollege Karl Hillermeier macht klar: »Wir mußten das jetzt in Gang setzen.«

In Gang setzten die Freistaatler zunächst eine Protestwelle sondergleichen. Das Gesundheitsministerium im angrenzenden Baden-Württemberg nannte die rigorosen Bayern-Regeln einen »Rohrkrepierer erster Güte« Nachbar Hessen sprach von »blindwütigem Aktionismus«. CDU-Regierungen im Norden reihten sich, ebenso wie alle SPD-Länder, in die Front der Kritiker ein.

Der Ausstieg Bayerns aus der Gemeinsamkeit der Gesundheitsminister, die im November vergangenen Jahres entschieden hatten, daß die Anwendung des Seuchengesetzes bei Aids unangebracht sei, empörte den Vorsitzenden des Fachgremiums. Der niedersächsische CDU-Sozialminister Hermann Schnipkoweit: »Inhaltlich wird das nicht nachvollzogen und nicht mitgetragen.

Und Rita Süssmuth, eingeschworene Gegnerin staatlicher Zwangsmaßnahmen, sieht auf die Bundesrepublik schon ein neues Flüchtlingsproblem zukommen: »Wo bleiben dann die Infizierten? Wo dürfen sie noch arbeiten, wo noch wohnen, wo leben? Wollen wir den Aids-Staat, dann brauchen wir viel Polizei und eine Überwachung von vielen Menschen rund um die Uhr.«

Denn viele, die »nicht in der Nähe der Zwangsmaßnahmen landen wollen (Deutsche Aids-Hilfe), werden schon bald, so glauben Experten, untertauchen, oder aus dem Freistaat weglaufen - Bayern exportiert das Aids-Problem in anliegende Bundesländer. In West-Berlin und Frankfurt sind die ersten Wanderdirnen aus Bayern gesichtet worden.

Homosexuelle in der Münchner Szene halten die Zeit für gekommen, abzuhauen. Sie sahen sich seit den letzten Monaten ohnehin schon unter Druck gesetzt. Unauffällig, so behaupten einige, seien die Kennzeichen parkender Autos vor Schwulen-Treffs von Zivilbeamten notiert worden.

Die Deutsche Aids-Hilfe empfiehlt ausdrücklich: Jeder, der sich fortan in Bayern über Aids auch nur aufklären lasse, müsse damit rechnen, »als ansteckungsverdächtig angesehen und zwangsweise« getestet zu werden. Der Verband rät daher, sich künftig »außerhalb Bayerns« beraten zu lassen - zusätzlicher Druck auf die Aids-Helfer, die ohnehin hoffnungslos überlastet sind.

Auch Aids-Infizierte und Aids-Kranke werden womöglich Zuflucht im befreundeten Inland suchen. Für sie plant Bayern nämlich gesonderte »Wohnprojekte«. Aids-Positive und -Kranke sollen, wie schwerkriminelle Serientäter oder Geisteskranke, die als gemeingefährlich gelten, vom Rest der Gesellschaft separiert und, so der (CDU-Bundestagsabgeordnete Horst Seehofer, in »speziellen Heimen« konzentriert werden. Begründung: Eine Pflege der Aids-Patienten in teuren Krankenhäusern sei auf Dauer gar nicht zu finanzieren.

In die Fluchtbewegung könnten sich auch bald jene einreihen, die Arbeit suchen und einen Zwangstest ablehnen. Die vorgeschriebene Einstellungsuntersuchung für Bewerber im öffentlichen Dienst, so fürchtet Rita Süssmuth, führe dazu, daß »auch in der privaten Wirtschaft obligatorisische Untersuchungen eingeführt werden. Schon ein Aids-Positiver, der nach bisherigen Erkenntnissen nicht notwendigerweise erkranken muß, fiele dann in Bayern unter nahezu totales Berufsverbot.

Und wer als Österreicher oder Schweizer in Bayern sein Geld verdienen will, wer als politischer Flüchtling aus der Dritten Welt Asyl in der Bundesrepublik sucht, wird Bayern tunlichst meiden wie die Pest. Im bayrischen Zirndorf, dem zentralen Auffanglager für Asylanten, wird nun offiziell praktiziert werden, was dort seit Monaten schon üblich ist - die Durchuntersuchung auf Aids. Vor allem Afrikaner - Virologen schätzen, daß fast jeder dritte Zentralafrikaner Aids-infiziert ist - werden sofort abgeschoben.

Das Instrumentarium gegen Ausländer ist dem Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß noch nicht stark genug. Das ging ihm auf, als er sich vorigen Donnerstag, vor einem Besuch des Wiener Opernballs, Beschwerden des österreichischen Bundeskanzlers Franz Vranitzky darüber anhören mußte, daß sich die Österreicher, da nicht zur EG gehörig, in Bayern auf Aids testen lassen müßten.

Es sei »Blödsinn«, tadelte Strauß den Beschluß seines Ministerrates, »wenn man einreisende Sizilianer oder Südspanier nicht in diese Untersuchung einbezieht, dafür aber Österreicher, Schweizer, Finnen, Schweden oder Norweger. Es sei zu überlegen, so Strauß, daß alle Ausländer fortan, wenn sie in Bayern bleiben wollten, zum Aids-Test müssen - unterschiedslos.

Volksgesundheitspolitiker Strauß: Es gehe um eine einheitliche Behandlung der Bürger des »europäischen Hygienekreises« - Sizilianer und Südspanier eingeschlossen.

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