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Christian Stöcker

Flüchtlingsdebatte Das Geheimnis der schreienden Zwerge

Eine lautstarke Minderheit dominiert den politischen Diskurs, an den Interessen der meisten Bürger vorbei - und die AfD profitiert. Doch warum ist das eigentlich so? Die Antwort sollte auch Horst Seehofer interessieren.
Demonstranten nehmen unter Führung der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) an einer Kundgebung teil (Archiv)

Demonstranten nehmen unter Führung der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) an einer Kundgebung teil (Archiv)

Foto: Aktivnews/ picture alliance / dpa

Bitte beantworten Sie im Kopf eine kurze Frage, so schnell wie möglich, ohne groß nachzudenken und ohne Ausflüchte wie "kommt darauf an".

Bereit? Okay, hier ist die Frage:

Welcher deutschen Partei gehört das Thema Flüchtlinge?

Sie haben gerade "der AfD" gedacht, stimmt's? Was auch sonst, denn welche andere Partei redet - abgesehen von all den noch offenkundiger rechtsradikalen Ausrutschern - über nichts anderes als über Flüchtlinge, Einwanderung, Islam?

Jetzt noch eine zweite Frage: Was wäre nötig, damit Sie, wenn man Sie nach der Farbe einer blauen Fläche fragt, mit "grün" antworten?

Darauf kommen wir später zurück.

Das Konzept "issue ownership", die Idee, dass bestimmte Themen bestimmten Parteien "gehören", erdachte der amerikanische Politologe John Petrocik  Mitte der Neunziger. Unterschiedliche Themen werden demnach vorrangig bestimmten Parteien oder politischen Richtungen zugeordnet.

Nachrichtendichte -> Umfragewerte

Parteien profitieren davon, wenn "ihre" Themen häufig auf der Agenda stehen, also in der medialen und heute natürlich auch der sozial-medialen Debatte häufig vorkommen. Für Radikale und Extremisten, die früher schwerer Gehör fanden, sind die sozialen Medien deshalb ein Gewinn. Hier können Zwerge unbedarfte Beobachter davon überzeugen, sie seien Riesen.

Gunnar Thesen von der Universität Stavanger und seine Kollegen haben sich kürzlich angesehen , welche Themen wie oft in den öffentlich-rechtlichen Radionachrichten Dänemarks auftauchten, die dort eine wichtige Rolle im Nachrichtengeschäft spielen - und wie sich das auf die monatlichen Umfragewerte der Parteien auswirkte. Sie betrachteten einen Zeitraum von 20 Jahren, von 1984 bis 2003.

Und siehe da: Wenn "ihre" Themen häufiger vorkamen, etwa Wirtschaft, Einwanderung und Kriminalität, gewannen im Anschluss die Bürgerlichen und Rechten an Zustimmung. Wenn "linke" Themen wie Arbeitslosigkeit oder Umweltschutz medial im Vordergrund standen, profitierten davon die Parteien des linken Flügels.

Schöne Grüße an die SPD

Das gilt allerdings nicht für alle gleichermaßen: "Die Opposition hat wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen, wenn ihre Themen auf der medialen Agenda stehen", schreiben die Autoren. Wer gerade regiert, hat's schwer: Von einem Fokus auf die "eigenen" Themen profitierten Regierungsparteien eigentlich nur, weil die Opposition dann nichts gewann. Schöne Grüße an die SPD.

Im aktuellen Kontext noch beunruhigender ist eine neue Studie aus Großbritannien, von der University of Southampton. Die Autoren zeigen darin , wie sehr die rechtsnationale Ukip-Partei, der die Briten maßgeblich ihre mittlerweile für die meisten erkennbar dämliche Brexit-Entscheidung verdanken, von medialer Aufmerksamkeit profitierte. Der zeitliche Zusammenhang sei klar, schreiben die Forscher: "Mediale Berichterstattung befördert Unterstützung für die Partei, aber nicht umgekehrt."

Der Lügner als Stratege

Ähnliche Zusammenhänge - Publizität bringt Punkte - sind schon diverse Male für andere Anti-Migranten-Parteien gezeigt worden , in diversen Ländern, auch in Deutschland.

Das ist der strategische Hintergrund der ständigen rechtsradikalen Provokationen der AfD: Wer Tabus bricht, über den wird berichtet. Das Strategiepapier, in dem man diesen konkreten Plan schon Anfang 2017 nachlesen konnte , stammt übrigens von einem Mann, der gerade erst juristisch zur Richtigstellung einer absurden Wahlkampflüge verdonnert worden ist.

Sind "die Medien" schuld?

Sind also allein "die Medien" schuld an der AfD? Sie tragen zweifellos dazu bei, mit Talkshoweinladungen, exzessiver Berichterstattung über einzelne Straftaten und so weiter. Aber selbstverständlich spielen zum Beispiel auch äußere Ereignisse eine Rolle. Den Krieg in Syrien und die dadurch entstandene Fluchtbewegung hätten deutsche Medienhäuser schwerlich ignorieren können. Rassismus ist in Deutschland nichts Neues, siehe #MeTwo. Ereignisse wie die Silvesternacht von Köln wurden von rechten Propagandisten konzertiert ausgeschlachtet, insbesondere über die sozialen Medien. Und häufig machen auch gar nicht "die Medien" Themen groß - sondern Politiker anderer Parteien.

Horst Seehofer zum Beispiel. Was der Mann in den Monaten seit der Regierungsbildung veranstaltet hat, kann man nur "Taktieren" nennen. Allerdings ist es das Taktieren eines stolpernden, ahnungslosen Stümpers. Seehofer ist wie ein Spitzenmanager, der ein Großunternehmen auf Basis seiner aktuellen Gemütslage zu führen versucht, alle wissenschaftlichen Erkenntnisse ignorierend. In der Wirtschaft hätte man ihn längst gefeuert. Der Wähler würde ihn übrigens auch feuern, noch nie waren Seehofers Umfragewerte so niedrig wie jetzt. Jetzt will der Mann auch noch twittern , es schaudert einen.

Seehofer hätte klar sein müssen, dass sein Europa-erschütterndes "Masterplan"-Tamtam nicht der CSU, sondern der AfD in die Hände spielen würde, siehe "issue ownership". Die AfD liegt laut ARD-"Deutschlandtrend" mittlerweile bei 17 Prozent, ohne irgendetwas dafür getan zu haben, als regelmäßig unangenehm aufzufallen.

39 Prozent der Deutschen finden die Flüchtlingspolitik "sehr wichtig", 69 Prozent Gesundheitspolitik und Pflege, 64 Prozent die Renten- und Sozialpolitik. Beim letzteren Thema zum Beispiel sind 67 Prozent mit der Arbeit der Bundesregierung unzufrieden . Womit sollte man auch zufrieden sein, viel ist da ja nicht zu hören. Man muss ja ständig über Flüchtlinge reden. Die Regierung regiert an den Interessen der Regierten vorbei.

Blau = Grün

Und damit kommen wir jetzt noch kurz zu der zweiten Frage von oben. Sie bezieht sich auf ein klassisches Experiment aus der Sozialpsychologie, in der es um den Einfluss von Minderheiten geht. Durchgeführt hat es, im Jahr 1969, der französische Sozialpsychologe Serge Moscovici. In dem Experiment sahen die Versuchspersonen eine Reihe von Dias in unterschiedlichen Blautönen. Bei jedem Dia sollten sie laut die Farbe benennen. In einer Gruppe platzierten Moscovici und seine Kollegen jeweils zwei Personen, die statt blau immer "grün" sagten. Und siehe da: In mehr als acht Prozent der Fälle nannten nun auch nicht eingeweihte Versuchspersonen die blauen Dias "grün".

Wenn eine Minderheit sich nur konsistent verhält, nie von ihrer den beobachtbaren Fakten widersprechenden Position abweicht, wird sie ein paar andere überzeugen, sich genauso zu verhalten. Dieses Phänomen ist seither wieder und wieder belegt worden.

Diese Strategie verfolgt bekanntlich Donald Trump, der Mann, der pro Tag im Schnitt sieben- bis achtmal öffentlich lügt . Und natürlich auch die AfD: Wenn man nur standhaft behauptet, dass Flüchtlinge und Einwanderer das größte Problem darstellen, das Deutschland hat, dann wird das schon irgendwer glauben, so unsinnig diese These auch ist.

Medien, Parteien und Öffentlichkeit täten gut daran, den brüllenden rechtsnationalen Popanz endlich als den Zwerg zu behandeln, der er in Wahrheit ist. Dann wird er wieder auf sein tatsächliches Maß schrumpfen.