Sexualisierter Wahn durch Antikörper? Wann hinter psychotischen Symptomen immunologische Ursachen stecken

Bettina Micka

Interessenkonflikte

8. Januar 2019

Berlin – Ein Stirnrunzeln, ein Verziehen des Mundes, eine Handbewegung – alles deutet die 42-jährige Lehrerin und Sporttherapeutin als Aufforderung zum Geschlechtsverkehr. Jeder Geste oder Mimik eines Mannes schreibt sie dabei den Hinweis auf eine ganz bestimmte Stellung beim Sex zu. Zudem hört sie Stimmen – meist ebenfalls zu sexuellen Themen.

Zunächst wird die Patientin mehrfach mit Neuroleptika gegen Schizophrenie behandelt. Die Stimmen verschwinden, das sexualisierte Wahnsystem jedoch nicht. Erst eine Kortison-Stoßtherapie vertreibt neben den Stimmen auch Wahn und weitere psychiatrische Symptome dauerhaft aus ihrem Kopf. Eine Hashimoto-Enzephalopathie (auch Steroid-responsive Enzephalopathie bei Autoantikörpern gegen die Schilddrüse – SREAT) war Ursache der psychiatrischen Symptome.

Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst

Dieses Fallbeispiel schilderte Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst, leitender Oberarzt am Klinikum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie [1]. Er erläuterte, wie Ärzte im klinischen Alltag Patienten mit psychiatrischen Symptomen, die auf immunologische Ursachen zurückgehen, identifizieren und therapieren können.

Hirn in „Flammen“: Immunologische Enzephalopathien

Als Auslöser psychiatrischer Symptome kommen zahlreiche, teils schon länger bekannte organische Ursachen infrage:

  • rheumatologische (z.B. Minor Variante eines SLE),

  • neurodegenerative (z.B. Parkinson-Syndrom (Lewi-Körperchen-Krankheit),

  • genetische (akut intermittierende Porphyrie, 22q11-Syndrom oder NPC-Krankheit),

  • metabolische (z.B. Porphyrie),

  • toxische (z.B. Tollkirsche),

  • endokrinologische (z.B. Hyperparathyreoidismus),

  • epileptische / paraepileptische,

  • neoplastische (z.B. Hirntumoren),

  • immunologische / rheumatologische (z.B. NMDAR-Encephalitis oder SREAT).

Bisher galten immunologische Enzephalopathien primär als neurologische Erkrankungen, da sie oft mit neurologischen Symptomen wie epileptischen Anfällen, kognitiven Problemen, Halbseitenlähmung etc. einhergehen.

Die Vermutung, dass eine Entzündung im Gehirn auch Schizophrenie verursachen kann, kam zwar schon vor rund 90 Jahren auf. Doch erst seit Anfang dieses Jahrhunderts gibt es die ersten Belege dafür. Seither mehren sich Fallbeschreibungen, bei denen diese Entzündungen mit typischen psychiatrischen Krankheitsbildern einhergehen.

Vermutlich sind längst noch nicht alle Antikörper bekannt, die Enzephalopathien auslösen können. Bisher beschrieben sind Antikörper gegen:

  • Zelloberflächen-Antigene (z.B. N-Methyl-D-Aspartat[NMDA]-Rezeptor, voltage-gated potassium channel[VGKC]-Komplex),

  • intrazelluläre onkoneuronale Antigene (z.B. Yo, Hu, GAD) und

  • Thyroidperoxidase (TPO) und Thyreoglobulin (TG) bei der Hashimoto-Enzephalopathie.

Eindrucksvoller Behandlungserfolg

Die Patientin im Fallbeispiel hatte einen leicht positiven Wert für TPO-AK von 50 U/ml (negativ: < 35 U/ml). „Weil ihre Symptome so klassisch psychiatrisch waren, taten wir uns trotzdem schwer, das als Hashimoto Enzephalopathie zu interpretieren“ berichtete Tebartz van Elst. Und er gibt zu bedenken: „Ein Antikörper-Befund begründet noch keine Diagnose.“ Denn bei 10 bis 20% der Bevölkerung sind solche Antikörper nachweisbar.

 
Ein Antikörper-Befund begründet noch keine Diagnose. Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst
 

Das MRT der Patientin war unauffällig, das EEG zeigte eine diffuse generalisierte Verlangsamung. Im Liquor fanden sich nur diskrete Schrankenstörungen. Weitere Antikörper waren nicht feststellbar. Eine positive Familienanamnese bestand für affektive Störungen, nicht für Psychosen. Daher wurde sie leitliniengerecht wie bei einer klassischen Schizophrenie behandelt.

Diese Therapie brachte jedoch nur teilweise Besserung und musste wegen starker Nebenwirkungen immer wieder abgesetzt werden. Beim dritten stationären Aufenthalt entschieden sich Tebartz van Elst und seine Kollegen wegen der Hashimoto-Antikörper und des EEG-Befundes schließlich zu der Kortison-Stoßtherapie. Nach etwa 2 Wochen waren die Stimmen und das Wahnsystem vollständig verschwunden. „Das war für das Pflege- und Behandlungsteam sehr eindrucksvoll“, erinnert sich Tebartz van Elst, der auch die Forschungsgruppe „Immunologische Enzephalopathien“ in Freiburg leitet.

Welche Diagnostik bringt die entscheidenden Hinweise?

Er stellte eine Studie aus 2016 vor, in der unter 251 Patienten mit Hashimoto-Enzephalopathie bei 25% psychotische Symptome (Verfolgungswahn) auftraten. Etwa 10% der Patienten zeigten ausschließlich psychiatrische Symptome so wie auch die vorgestellte Patientin.

Ein normales EEG hatten 18%, 48% ein unauffälliges MRT. Und bei mehr als 10% der Patienten war der Liquor unauffällig. Weder Klink, EEG, MRT noch Liquorbefund ermöglichen also eine eindeutige Differenzierung zwischen primär-psychiatrischer und neuro-immunologischer Erkrankung.

Während bei der Hashimoto-Enzephalopathie mitunter der Phänotyp auch rein klassisch psychiatrisch sein kann, haben Patienten mit anderen immunologischen Enzephalopathien meist sowohl neurologische als auch psychiatrische Symptome.

Doch auch klar neuropsychiatrische Patienten landen in 70 bis 80% der Fälle zuerst beim Psychiater, wie der Forscher berichtete. In einer Studie wurden 100 Fälle von Anti-NMDA-Rezeptor-Encephalitis charakterisiert.   

Überwiegend handelte es sich um Frauen. 77% wurden zunächst von einem Psychiater untersucht. 86% hatten Dyskinesien und andere Bewegungsstörungen. Bei 55% ergab das MRT pathologische, wenn auch oft unspezifische Befunde. Bei fast allen (92%) war das EEG pathologisch und ebenso der Liquor (95%) auffällig (meist Pleozytode und Schrankenstörung).

 
Das EEG ist bei immunologischen Enzephalopathien am sensitivsten als Untersuchungsmethode, sensitiver als das MRT. Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst
 

„Das EEG ist bei immunologischen Enzephalopathien am sensitivsten als Untersuchungsmethode, sensitver als das MRT. Eine für viele vielleicht kontraintuitive Take-Home-Massage“, gab Tebartz van Elst zu bedenken. Auch gebe es beim EKG keine einheitliche Pathophysiologie. Jeder Antikörper habe seine eigene. Zudem finden sich EEG-Pathologien auch bei 4 bis 15% der primären, also nicht organisch bedingten Psychosen.

Der Liquor sei sicher eine wichtige und zentrale Untersuchung. Spezifische Befunde im Liquor seien hochrelevant, aber auch der Liquor könne unauffällig sein, so Tebartz van Elst.

In 2 Studien aus 2013 bzw. 2014 fanden sich bei 8,6 bis 9,9% der Schizophrenie-Patienten im Serum Anti-NMDAR-Antikörper. Doch auch bei 10,6% gesunder Probanden ließen sich diese Antikörper nachweisen. Antikörper können deshalb nur ein Indiz auf eine autoimmune Ursache sein. Im Liquor konnten Tebartz van Elst und seine Kollegen bei ihren Freiburger Patienten Antikörper bei 0,8% nachweisen.

Tumoren als Ursache

Encephalitiden durch onkoneuronale Antigene können mit verschiedenen Tumorarten assoziiert sein. Bei jungen Mädchen mit einer akut polymorphen psychotischen Symptomatik sollte man z.B. immer an ein Teratom denken.

Eine Psychose kann aber auch z.B. von einem kleinzelligen Lungenkarzinom verursacht werden. „Wird diese extrem bösartige Tumorform dann aufgrund der psychotischen Symptomatik rechtzeitig erkannt, dann hat Ihnen das Stimmen-Hören vielleicht das Leben gerettet“, so Tebartz van Elst. Nicht selten kommen psychiatrische Symptome außerdem bei Brust- oder Ovarialkrebs vor.

Das Unwahrscheinliche im Hinterkopf haben

Es sind nicht nur die uneindeutigen Symptome und Befunde, warum bisher nicht wenige der immunologischen Enzephalopathien zunächst nicht erkannt werden. Die Gruppe solcher Patienten unter denjenigen mit psychiatrischen Symptomen ist mit 5 bis 10% auch klein.

„Im klinischen Alltag macht ein Arzt bei psychischen Störungen also bei 100 Patienten etwa 95 unauffällige EEG, Liquores etc. Das könnte ihm das Gefühl vermitteln: ‚Da ist ja nichts‘. Doch für diejenigen, bei denen dann doch die Befunde auf eine organische Ursache hindeuten, ist das höchst relevant“, erläuterte Tebartz van Elst.

 
Ich persönlich würde bei einer Psychose aus heiterem Himmel immer ein EEG, ein MRT und eine Liquor-Untersuchung machen … Prof. Dr. Ludger Tebartz van Elst
 

Wo sind nun Patienten mit psychiatrischen Symptomen gut aufgehoben, wenn sie sich beispielsweise beim Hausarzt vorstellen? „Ich halte Psychiater schon für die richtige Adresse“, sagt Tebartz van Elst im Gespräch mit Medscape, „nur sollen diese unbedingt eine Liquor-Untersuchung machen.“

„Ich persönlich würde bei einer Psychose aus heiterem Himmel immer ein EEG, ein MRT und eine Liquor-Untersuchung machen und wenn es da etwas Auffälliges gibt, würde ich auch die Antikörper bestimmen“, so Tebartz van Elst. „Das ist natürlich noch nicht leitliniengerecht“, räumt er ein, „aber so würde ich meine Kinder diagnostizieren und so würde ich aus ethischen Gründen dann auch meine Patienten diagnostizieren.“

„Angesichts dessen, was als Diagnose im Raum steht, nämlich eine Schizophrenie, spricht nach meinem persönlichen Dafürhalten, wenig dagegen, diese Untersuchungen zu machen.“ Die Kosten dafür beliefen sich etwa auf 500 bis 1.000 Euro.

Angesichts der finanziellen Ressourcen, die für einen psychotischen Patienten in seiner Lebenszeit mit hoher Wahrscheinlichkeit aufwendet werden müssten, „sind 1.000 Euro für eine frühe umfassende Diagnostik komplett irrelevant, Portokasse“.

„Wir sehen es häufig, dass Patienten jahrelang therapiert wurden, bevor man diese diagnostischen Maßnahmen ergreift“, beklagt Tebartz van Elst. Und dann geschehe das oft nicht aus einer Hand und mit zeitlichem Abstand. „Da ist es viel klüger alles sofort und auf einmal anzugehen, am besten an einem Zentrum mit Erfahrungen“, gab er zu bedenken. 

Wann die Alarmglocke läuten und warum man sie nicht überhören sollte

An eine immunologische Enzephalopathie sollte gedacht werden:

  • bei sehr kurzer Entwicklung (weniger als 3 Monate) einer dysexekutiven, psychotischen, depressiven oder dementiellen Symptomatik,

  • bei atypischer klinischer Repräsentation,

  • bei zusätzlichen Symptomen wie Bewegungsstörungen, Myoklonien oder epileptischen Anfällen,

  • bei auffälliger Basisdiagnostik (MRT, EEG, Liquor, Hyponatriämie, positiven Schilddrüsenantikörpern, Autoantikörpern im Serum/ Liquor etc.).

Warum es so bedeutsam ist, immunologische Enzephalopathien zu erkennen:

  • weil eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt,

  • weil oftmals Tumorassoziation besteht,

  • weil im Vergleich zur klassisch-psychiatrisch medikamentösen Behandlung eine innovative Behandlungsoption (Immuntherapie) zur Verfügung steht und diese Erkrankungen unter adäquater Behandlung potenziell reversibel sind.

Den Körper therapieren – den Geist heilen

Konnte ein Tumor nachgewiesen werden, besteht die kausale Therapie der neuropsychiatrischen Symptome in der Resektion.

Bei anderen immunologischen Enzephalopathien kommen eine hoch dosierte Steroidbehandlung, Plasmapherese oder intravenöse Immunglobuline zum Einsatz. Spricht ein Patient darauf nicht an, kann ein Therapieversuch mit Rituximab oder Cyclophosphamid erwogen werden.

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Kommentar

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