Terminservice- und Versorgungsgesetz – weiße Salbe für Psychotherapiepatienten, unsinnige Pflichten für Psychotherapeuten

Offener Brief von Psychotherapeut*innen an politische Entscheidungsträger, Berufsverbände und -kammern. Kolleginnen und Kollegen, die die Anliegen dieses Textes unterstützen möchten, können ihn gerne ebenfalls unterzeichnen und sich dazu per Mail an Stefan Baier wenden.

Wenn das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSG) zu Beginn des Jahres 2020 in Kraft treten wird, das am 14. März 2019 vom Bundestag beschlossen wurde, darf die Wartezeit auf eine psychotherapeutische Akutbehandlung „maximal 2 Wochen betragen“ (https://www.bundesgesundheitsministerium.de/terminservice-und-versorgungsgesetz.html). Donnerwetter, kann das funktionieren? Zitierte nicht noch am 13. März 2019 die Frankfurter Rundschau die Psychotherapeutenkammer Hessen, die Wartezeit auf eine Psychotherapie betrage in Hessen knapp 15 Wochen? Er ist halt doch ein Macher, dieser Jens Spahn! Wie wird er in wenigen Monaten solch einen Fortschritt auf den Weg bringen?

Die Antwort wird leider sein: gar nicht! Diese Bundesregierung hat ja Erfahrung mit leeren Versprechungen, ab dem nächsten Jahr wird’s halt eine mehr davon für die Psychotherapiepatienten geben.

Aber von vorne: in einem öffentlichen Schreiben hat die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH) zu Beginn des Jahres 2019 beklagt, die Bereitschaft von Behandlern, Termine an die Terminservicestellen (TSSs) zu melden, sei drastisch gesunken und beschränke sich auf immer weniger Praxen. Weiter hieß es, es fehle an Terminen und die KVH könnte ihrem gesetzlichen Auftrag, Termine in den vorgeschriebenen Fristen zu vermitteln, so nicht mehr nachkommen. Daher sei es „leider unumgänglich“, die Behandler künftig zur Meldung von Terminen bei den TSSs zu verpflichten (https://www.kvhessen.de/publikationen/tss-terminmeldung-verpflichtend/).

Hier äußern wir uns als Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu den Auswirkungen des TSG auf den Bereich der Psychotherapie. Und auch dazu, wie es sich erklärt, dass viele unserer Kolleginnen und Kollegen der obengenannten Pflicht bisher nicht oder nur zögerlich nachgekommen sind.

Für unsere Berufsgruppe verpflichtend sind die Terminmeldungen von 2 Gesprächen zur psychotherapeutischen Sprechstunde sowie einer probatorischen Sitzung pro Monat sowie von einer sogenannten Akutbehandlung pro Quartal.

Zunächst sei erklärt, worum es sich bei den beschriebenen Terminen handelt. Die psychotherapeutische Sprechstunde dient dazu, in Einzelkontakten von bis zu 150 Minuten festzustellen, ob bei einer Patientin oder einem Patienten ein Verdacht auf eine seelische Krankheit vorliegt, ob weitere Hilfe notwendig ist und welche. Eine probatorische Sitzung hat den Zweck, vertieft zu prüfen, ob sowie welche Art von Psychotherapie zweckmäßig ist und ob Therapeut*in und Patient*in in Vorgehensweise und Erwartung für eine sich anschließende Psychotherapie zusammenpassen. Pro Patient*in stehen zumeist 4 Termine à 50 Minuten zur Verfügung. Ziel der Akutbehandlung ist es schließlich, Patient*innen in akuten Krisen zu unterstützen und dadurch die Fixierung und Chronifizierung seelischer Probleme zu vermeiden. Sie hat einen Umfang von 12 Terminen à 50 Minuten.

Die psychotherapeutische Sprechstunde, in der ausschließlich geprüft wird, ob eine seelische Erkrankung vorliegt und eine Psychotherapie sinnvoll wäre, ist in 150 Minuten gründlich zu erledigen. Diese Verpflichtung, dass Psychotherapeut*innen den TSSs psychotherapeutische Sprechstunden melden müssen, ist denn auch sinnvoll. Sie zeigt aber im Falle eines Behandlungsbedarfes unvermindert häufig, dass es in den meisten Regionen Deutschlands an Psychotherapieplätzen fehlt. Eine probatorische Sitzung bereitet zusammen mit weiteren probatorischen Sitzungen eine regelmäßige Psychotherapie im Umfang zwischen 12 und 60 Terminen vor. Eine einzelne probatorische Sitzung kann in der Regel nicht sinnvoll genutzt werden. Um eine Akuttherapie durchzuführen, ist der Gesamtrahmen von 12 Terminen erforderlich – das einzelne Gespräch, zu dem wir Therapeut*innen verpflichtet werden, ist fachlich hingegen nicht sinnvoll nutzbar.

Gestatten Sie uns folgenden Vergleich: wenn bei Ihnen zuhause das Dach undicht ist und der Dachdecker für das neue Decken des Daches eine Woche veranschlagt, wird es Ihnen eher schaden als nützen, wenn der Handwerker schon mal für einen halben Tag kommt und das alte Dach entfernt, wenn er in den nächsten Monaten keine anderen Termine anbieten kann.

Doch genau dazu werden wir Psychotherapeut*innen verpflichtet, wenn wir probatorische Sitzungen und Akutbehandlungen selbst dann anbieten müssen, wenn wir keine Ressourcen haben, um die Behandlung fort- oder zuende zu führen. Dass viele unserer Kolleginnen und Kollegen sich dem verweigern, halten wir für mehr als verständlich.

Um ihrer Verpflichtung nachzukommen, haben Psychotherapeut*innen zwei gleichermaßen schlechte Möglichkeiten: entweder, sie halten erhebliche Anteile ihrer Arbeitszeit frei, um die Patient*innen umfassend behandeln zu können, für die sie verpflichtend Termine anbieten müssen. Diese Zeit fehlt ihnen dann aber für die Patient*innen, die schon regelmäßig zur Behandlung kommen. Oder sie reservieren wirklich nur die verpflichtenden Termine, die sie anbieten müssen; um auf das Beispiel zurückzukommen, würde das heißen: die Therapeut*innen beginnen in den verpflichtenden Gesprächen, das Dach abzudecken. Und die Patient*innen müssen dann sehen, wie sie ohne Dach zurechtkommen.

Dass die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz im Bundesdurchschnitt in Umfragen zwischen 15 und 20 Wochen betragen, hat hauptsächlich den Grund, dass in den letzten zwei Jahrzehnten die Nachfrage nach Psychotherapie viel stärker gestiegen ist als das Angebot. Woher, bitte, sollen ohne Neuzulassungen in 9 Monaten die Kapazitäten kommen, damit die gemäß TSG bestehende Verpflichtung eingelöst werden kann, dass Patienten nach spätestens 2 Wochen einen Platz für eine Akutpsychotherapie bekommen?

So wird sich diese Ankündigung als leere Versprechung erweisen. Die Versorgung psychisch kranker Menschen mit Psychotherapie wird im Gegenteil noch schwerer, Patienten werden einmal mehr im Regen stehen gelassen. Für uns Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist es Ärgernis und Schrecken, dass von der Gesundheitspolitik trotz hehrer Ankündigungen offenkundige Versorgungsmängel nicht gelöst, sondern immer neue Sauen durchs Dorf getrieben werden, mit denen wir sinnlos beschäftigt werden, ohne uns konstruktiv um Patienten und Patientin kümmern zu können.

Bitte sprechen Sie Ihre*n Abgeordnete*n im Landtag oder Bundestag auf die folgenden Missstände an:

  • Es gibt zu wenige Kassenzulassungen für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in den meisten Regionen Deutschlands.
  • Verpflichtung zu einzelnen Probatorische Sitzungen sowie Akuttherapiesitzungen trotz fehlender Zeitkapazitäten lassen Hilfesuchende im Regen stehen und nutzen die Kapazitäten der Psychotherapeut*innen ineffektiv.

Stattdessen ist zu fordern:

  • Neubewertung des Bedarfs an Kassenbehandlerinnen und -behandlern für Psychotherapie in Deutschland und regelmäßige Überprüfung orientiert an der realen Nachfrage. Im Falle fehlender Plätze Erteilung von Neuzulassungen.
  • Entfall der Vergabe von Terminen für Probatorische Sitzungen sowie Akuttherapie über die TSSs.

Vielen Dank! Jeder Erfolg nützt uns allen!

Gezeichnet:      

Stefan Baier, Offenbach; Reinhard Becker, Offenbach; Ursula Brenner, Offenbach; Dr. Franz Dick, Frankfurt; Anette Diegelmann, Offenbach; Michael Dreisbusch, Frankfurt; Dagmar Frank, Offenbach; Jan Freudenberger, Offenbach; Inga Friedrich, Offenbach; Anne Greß, Offenbach; Daniela Gleitz, Offenbach; Susan Gubitz, Köln; Rainer Gutjahr, Frankfurt; Birgit Hellwig, Offenbach; Joanna Jajte, Offenbach; Helga Janowsky, Frankfurt; Birgit Jost, Rödermark; Peter Kieferdorf, Nidda; Ursula Leim, Offenbach; Christine Lenz, Offenbach; Dagmar Losch, Offenbach; Karin Naber, Offenbach; Jutta Niederquell, Offenbach; Peter Müller, Bensheim; Julie Paschold, Offenbach; Lucyna Pulkowski, Offenbach; Sigrid Schröder, Offenbach; Hannegret Schroven-Wilke, Offenbach; Gabriele Slansky, Offenbach; Peter Vater, Darmstadt; Monika Wagensonner, Frankfurt; Claudia Zechlin, Frankfurt. (32)

Autor: Stefan Baier

Jahrgang 1960, Partnerschaft, erwachsene Tochter. Arbeitet seit 1989 als Psychotherapeut, niedergelassen in eigener Praxis in Offenbach am Main.

2 Gedanken zu „Terminservice- und Versorgungsgesetz – weiße Salbe für Psychotherapiepatienten, unsinnige Pflichten für Psychotherapeuten“

  1. Sehr geehrter Herr Baier, ich bin selbst ärztliche Psychotherapeutin und kann nur sagen: dem Obigen ist nichts hinzuzufügen! Ziel der Politiker ist es Kollegen, die „volle Kassensitze durch hälftige Arbeitszeiten blockieren“, zur Arbeit zu zwingen. So sollen diese „brachen“ Kassensitze endlich für Psychotherapie-Sitzungen nutzbar gemacht werden. Nur: wer soll die Patienten denn sehen, wenn besagte Kollegen nicht bis an ihre persönliche Kapazitätsgrenze gehen können, aber mehr arbeiten können, als sie es bei einem „echten“ hälftigen Sitz dürften?
    Ich hätte Ihren Offenen Brief auch gern mit unterzeichnet.

    1. Hallo Frau Gubitz, danke für Ihre Anmerkungen. In einer ersten Fassung des Briefes hatten wir versucht, auch die wichtige Frage der nicht ausgefüllten Kassensitze mit aufzunehmen. Wir hielten das dann aber für so unübersichtlich und für potentiell verwirrend, dass wir uns für eine reduziertere und prägnantere Argumentation entschieden haben. Und letztlich: mit den beschriebenen Maßnahmen wird man vermutlich niemanden zwingen können, mehr als bisher zu arbeiten.

      Gerne nehme ich Sie zu den Unterzeichnenden. Bitte lassen Sie mich dazu wissen, wo Sie praktizieren.

      Herzliche Grüße

      Stefan Baier

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