MEINUNG

Burnout und Suizid von Ärzten: Warum wir es als Zeichen sehen sollten, „dass etwas in diesem System extrem falsch läuft“

Dr. Pamela L. Wible

Interessenkonflikte

24. April 2019

Burnout ist ein Slang-Wort und beschrieb ursprünglich eine Drogenabhängigkeit im Endstadium. Erstmals taucht der Begriff in den frühen 1970er Jahren auf den Straßen US-amerikanischer Innenstädte auf. Zu dieser Zeit arbeitete der Psychologe Herbert Freudenberger in einer Klinik in New York City, wo er Patienten mit Suchterkrankungen betreute.

Er schnappte damals den Begriff Burnout auf und benutzte ihn, um sich selbst und das Klinikpersonal in einem Artikel von 1974 zu charakterisieren, in dem er über den andauernden physischen und psychischen Stress am Arbeitsplatz schrieb.

Er verfasste dann ein Buch über Burnout bei Leistungsträgern und ein weiteres über Burnout bei Frauen und machte den ehemaligen Slang-Begriff salonfähig – dieser fand Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch.

Damit war ein Burnout nicht mehr darauf beschränkt, suchtkranke US-Amerikaner in Hinterhöfen, die sich eine Überdosis verabreichen, zu beschreiben. Jetzt litten auch Hausfrauen und Leistungsträger oder andere bei der Arbeit unter Stress Stehende unter „Burnout“.

Burnout: Sie sind normal, aber Ihr Job bringt Sie um!

Der Begriff „Burnout bei Ärzten“ taucht erstmals im Juli 1981 in einem PubMed-Literaturbericht in den American Medical News auf. Es ist unklar, wer den Begriff zuerst auf Ärzte angewendet hat.

Eindeutig aber ist, dass sich – obwohl sich die Medizin mit Burnout seit fast 4 Jahrzehnten exzessiv beschäftigt – es sich um eine zunehmende Epidemie unter den Ärzten handelt, die sich in Zynismus, Erschöpfung und Verzweiflung äußert. Warum aber erleiden immer mehr Ärzte diesen körperlichen und mentalen Zusammenbruch durch Überarbeitung?

Psychiater definieren Burnout als berufsbedingte Dysphorie bei einem Individuum, das keine Psychopathie aufweist. Das heißt: Sie sind normal, aber Ihr Job bringt Sie um!

Inzwischen werden an jeder Ecke Burnout-Ratgeber für Ärzte angeboten mit Tipps zu Atem- und Entspannungsübungen von speziellen Burnout-Betreuern.

Neugierig, weshalb sich Burnout unter Ärzten trotz der Fülle von Burnout-Programmen weiterhin ausbreitet, fragte ich den Burnout-Betreuer eines Arztes: „Glaubst du nicht, dass all diese Burnout-Atem- und Achtsamkeits-Workshops die Qualen der Ärzte, die in toxischen Arbeitsbedingungen gefangen sind, nur verlängern?“ Er antwortete: „Ja.“

Was ist das eigentliche Problem?

Seit diesem Gespräch im Jahr 2015 haben wir Burnout als Schlagwort entlarvt, das die Qualen der Ärzte nur verlängert, weil es das eigentliche Problem ausblendet, das zu ihrer Verzweiflung führt. Und was ist das eigentliche Problem? Dr. Wendy Dean und Simon Talbot haben es in einem wegweisenden Artikel im Jahr 2018 beschrieben: Ärzte haben keinen Burnout. Sie leiden unter einer Verletzung ihres moralischen Empfindens.

Darin erläutern sie: „Das Konzept Burnout steht bei Ärzten in einem schlechten Ruf. Denn es deutet auf ein Nachlassen von Einfallsreichtum und Belastbarkeit hin, Eigenschaften, die die meisten Ärzte in Jahrzehnten intensiver Ausbildung und anspruchsvoller Arbeit kultiviert haben ...“

 
Einfache Konzepte wie Wellness-Programme für Ärzte oder spezielle Stress-Beauftragte an Kliniken werden das Problem nicht lösen. Dr. Wendy Dean und Simon Talbot
 

„Ärzte sind wie Kanarienvögel im Kohlebergwerk der Gesundheit (sie funktionieren wie Grubengas-Detektoren), und sie bringen sich selbst mit alarmierender Geschwindigkeit um (z.B. doppelt so häufig wie Menschen im aktiven US-Militärdienst), was darauf hindeutet, dass etwas in diesem System extrem falsch läuft ...“

„Einfache Konzepte wie Wellness-Programme für Ärzte oder spezielle Stress-Beauftragte an Kliniken werden das Problem nicht lösen. Es wird auch nicht helfen, wenn Ärzte auf teambasiertes Arbeiten mit flexibleren Arbeitszeiten und Pools für ärztliche Notdienste umstellen, wenn Ärzte Achtsamkeit praktizieren, Meditation-und Entspannungstechniken lernen oder an Verhaltenstherapien und Resilienz-Training teilnehmen.“

Verletzung des moralischen Empfindens

Kürzlich zitierte ZDogg aus meinem Blog aus dem Jahr 2015 „Burnout ist Bullshit“ in seinem Video: „Es ist kein Burnout, es ist eine Verletzung des moralischen Empfindens“, was wiederum meinen Rat widerspiegelt, damit aufzuhören, diesen „Victim-Blaming“-Begriff zu benutzen.

„Verletzung des moralischen Empfindens“ ist ein Begriff, der 1998 vom Psychiater Dr. Jonathan Shay auf Kriegsveteranen angewendet worden ist. Verletzungen des moralischen Empfindens sind Gewissenskonflikte, die entstehen, wenn man Handlungen fortsetzt, bezeugt oder nicht verhindert, die den eigenen moralischen Überzeugungen, Werten oder ethischem Verhaltenskodex entgegenstehen – was oft zu tiefer Scham führt. Moralische Verletzungen sind eine normale menschliche Reaktion auf ein abnormales traumatisches Ereignis – eine tiefe Seelenwunde, die die eigene Identität und Moral zerstört.

Shays ursprüngliche Definition war geleitet von den Kriegserzählungen seiner Patienten und von Homers Ilias (762 v. Chr.) und setzte sich aus 3 Komponenten zusammen: (1) Verrat an dem, was richtig ist, (2) durch jemanden mit legitimer Autorität (3) in einer Situation mit hohem Einsatz.

Personen mit Verletzungen des moralischen Empfindens können sich selbst und die Welt als unmoralisch und irreparabel geschädigt betrachten.

Verletzungen des moralischen Empfindens gibt es aber eben nicht nur bei Kriegsveteranen – sie schließen im Jahr 2018 auch Ärzte ein – wie Dean und Talbot ihre Ablehnung des Labels Burnout und die Altnativen dazu begründen.

Sie glauben (wie ich auch), dass Zynismus, Erschöpfung und verminderte Produktivität von Ärzten Symptome eines kaputten Systems sind. Wirtschaftliche Kräfte, technologische Anforderungen und weit verbreitete generationenübergreifende Verletzungen der psychischen Gesundheit von Ärzten haben zu einem hochgradig dysfunktionalen und toxischen Gesundheitssystem geführt, in dem wir uns täglich im erzwungenen Verrat an unseren tiefsten Überzeugungen befinden.

Die Symptome dieser Verletzung des moralischen Empfindens bei den Opfern sind Selbstverletzung, schlechte Selbstfürsorge, Drogenmissbrauch, Rücksichtslosigkeit, selbstzerstörerisches Verhalten, Hoffnungslosigkeit, Selbsthass und vermindertes Mitgefühl. All das habe ich viel zu oft unter Ärzten gesehen.

Dennoch ist eine „Verletzung des moralischen Empfindens“ keine offizielle Diagnose. In medizinischen Einrichtungen werden keine spezifischen Lösungen angeboten, um solche Verletzungen von Ärzten zu heilen, obwohl zur Behandlung von Verletzungen des moralischen Empfindens bei Militärangehörigen auch Gruppengespräche (in denen Veteranen über ihre Kriegserlebnisse berichten können), Vergebungsrituale und individuelle Therapien erfolgreich angewendet worden sind. Tatsache ist aber, dass die meisten Opfer von moralischen Verletzungen alleine kämpfen.

Es gibt also bislang keine evidenzbasierte Therapie von Verletzungen des moralischen Empfindens bei Ärzten und auch keine Fortschritte durch 40 Jahren Burnout-Prävention. Wie soll es nun weitergehen? Indem man die wirkliche Diagnose – Verletzung des moralischen Empfindens – mit klaren, evidenzbasierten Lösungen bekämpft.

Verletzung der Menschenrechte

„Menschenrechte“ ist ein Begriff, der im Jahr 1947 von Eleanor Roosevelt geprägt worden ist, als sie vorschlug, „Männerrechte“ in „Menschenrechte“ zu ändern. Das hat zur „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 geführt, die von der UN-Generalversammlung als Standard für alle Menschen in der Welt akzeptiert worden ist. Wir Ärzte sind Verteidiger von Menschenrechten – etwa in Katastrophengebieten – doch wir haben es versäumt, die Menschenrechte von Medizinstudenten und Ärzten zu schützen.

Im Jahr 2014 habe ich begonnen, über Menschenrechtsverletzungen in der Medizin zu berichten, nachdem ich über meine ärztliche Hotline bei Suizidgefahr vom weit verbreiteten Missstand während der medizinischen Ausbildung und in der Praxis erfahren hatte.

Seit 2012 habe ich mit tausenden von Ärzten mit Suizidgedanken gesprochen – und sogar ein Buch mit Briefen von Ärzten, die ihre Selbsttötung ankündigten, veröffentlicht. Ärzte haben die höchste Suizidrate aller Berufe. Weshalb ist das so?

Es ist kein Burnout. Es ist auch keine Verletzung des moralischen Empfindens – sondern es handelt sich um eine Verletzung der Menschenrechte. Und diejenigen, die das überleben, leiden oft unter lebenslangen Folgen des Traumas.

Verstöße gegen das Arbeitsrecht

Die Arbeitszeiten von Ärzten sind weit von den Vorgaben der Arbeitsgesetze entfernt, die in anderen Branchen als sicher gelten. Unternehmen in Japan drohen strafrechtliche Sanktionen im Fall von Suiziden (und nicht-suizidalen Todesfällen), wenn die Mitarbeiter mehr als 60 Stunden pro Woche arbeiten, während unsere Ärzte 80, 100, sogar 120 Stunden arbeiten müssen. Auszubildende sind gezwungen, in Arbeitsprotokollen zu lügen, um die 80-Stunden-Obergrenze einzuhalten.

Extremer Schlafmangel führt zu Halluzinationen, lebensbedrohlichen Krampfanfällen und tödlichen Autounfällen nach Schichtende. Hinzu kommen medizinische Fehler. Unter die Menschenrechtsverletzungen im Beruf fallen zudem sexuelle Belästigung, Rassismus, Nahrungsmittel- und Wasserentzug, Schikanen, Mobbing und sogar körperliche Übergriffe – so wurden Auszubildende mit Messern verletzt, geschlagen und in Operationssälen und Krankenhausfluren weinend zurückgelassen.

Die Lösung für Verstöße gegen das Arbeitsrecht ist die Einhaltung von Regeln. Gegen Schlafentzug helfen Betten, gegen Nahrungsmittel- und Wasserentzug regelmäßige Mahlzeiten. Und ich bin sicher, wir sind uns alle einig, dass es in unseren Krankenhäusern keinen Platz für Diskriminierung und Gewalt geben darf.

Das Problem der Unterbesetzung kann nicht dadurch gelöst werden, dass junge Assistenten weiterhin gezwungen werden, über ihre physiologischen Fähigkeiten hinaus und zum Mindestlohn zu arbeiten.

Natürlich würden medizinische Einrichtungen lieber ihren neuen Wellness-Beauftragten und ihre Meditationsgärten feiern, als die Verantwortung für diese Menschenrechtsverletzungen gegen ihre eigenen Ärzte und Auszubildenden zu übernehmen. Doch Verleugnung und Vermeidung setzen nur den Missbrauch fort, was wiederum zu mehr Suiziden führt.

Notwendige Gegenmaßnahmen

Ich denke in Systemen, ich bin Wissenschaftlerin, Ärztin. Meine Aufgabe ist es, menschliches Leiden und Sterben zu verhindern – auch wenn das durch institutionelle Gewalt gegen Ärzte in unseren eigenen Krankenhäusern verursacht wird.

In der Medizin erfordert die Bekämpfung von Krankheiten primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. Die Primärprävention greift vor einem Schaden ein (z.B. Sicherheitsgurte). Die Sekundärprävention reduziert die Auswirkungen von etablierten Krankheiten (z.B. Antidepressiva). Die Tertiärprävention verbessert die Lebensqualität von Menschen mit chronischen Erkrankungen (z.B. PTBS-Selbsthilfegruppen).

Primäre Prävention zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen gegen Ärzte umfasst deshalb die Bildung von Gewerkschaften, die Möglichkeit von Sammelklagen, Klagen aufgrund von Todesfällen, Streiks, Boykotte, Strafen für Krankenhäuser und auch den Verlust der Zulassung. Zur Sekundärprävention gehören psychiatrische Betreuung, Beratung, geänderte Arbeitszeitpläne, Teilzeitarbeit, Kündigung von toxischen Arbeitsverhältnissen und die Gründung einer eigenen Praxis.

Tertiäre Strategien sind Whistleblowing, indem Betroffene sich in Artikeln über den erlebten Missbrauch äußern, Selbsthilfegruppen, Rückzugsmöglichkeiten und Selbstfürsorge.

Die Lösung unserer Krise erfordert einen klar umrissenen Diagnose- und Behandlungsplan. Jetzt ist die Zeit für die ungeschminkte Wahrheit und für entsprechendes Handeln gekommen.

„Verletzung des moralischen Empfindens“ mag weniger aggressiv klingen und akademisch und politisch deshalb eher akzeptiert sein. Doch sollen wir eine Diagnose auf der Grundlage dessen wählen, was sozialverträglich ist?

Stellen Sie sich vor, wir sagen „Herzverletzung“ statt Myokardinfarkt oder rupturierter Aorta. Wenn wir die tatsächliche Diagnose nicht benennen, wie können wir dann geeignete Tests und Interventionen veranlassen? Wenn wir die Wahrheit fürchten und bei der Beurteilung zögern, dann werden die Patienten an unserer Unentschlossenheit sterben.

Lassen Sie uns bei der Wahrheit nicht einknicken! Wir befinden uns mitten in einem Notfall des medizinischen Systems, der nicht individuell mit tertiären Präventionsstrategien gelöst werden kann. Notfälle erfordern sofortige Maßnahmen – Atemwege, Atmung und Kreislauf – und nicht Yoga und Zen-Meditation.

Dieser Artikel wurde von Ute Eppinger aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

Kommentar

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