Verlagsspezial

Interview :
Die elektronische Patientenakte ist das Fundament

Lesezeit: 6 Min.
Steht die ePA als Fundament, sind die Möglichkeiten gewaltig.
Damit die Digitalisierung auch im deutschen Gesundheitswesen rascher und erfolgreicher fortschreiten kann, hat das Bundesministerium für Gesundheit den Health Innovation Hub (hih) gegründet. Chairman Jörg Debatin spricht über Herausforderungen und die nächsten Schritte. Das Interview führte Anna Seidinger.
Jan Pauls Fotografie
Herr Professor Debatin, Sie sind Mediziner und haben als Ärztlicher Direktor des ­Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf bereits 2009 das erste papierlose Klinikum geschaffen. Wie wollen Sie die Geschwindigkeit der digitalen Transformation im deutschen Gesundheitswesen erhöhen?
Digitalisierung gelingt nur im Team. Das galt vor zehn Jahren für das Projekt in Hamburg ebenso wie für die anstehende digitale Transformation der deutschen Gesundheitsversorgung. Wir sind zwar spät gestartet, an Geschwindigkeit mangelt es im Augenblick allerdings nicht. Viele zentrale Puzzleteile fügen sich ineinander. Wir haben einen Bundesgesundheitsminister, der vom Wert der Digitalisierung überzeugt ist. Gleichzeitig ist er bereit, mit klaren Entscheidungen zu führen. Der Zuspruch, den er diesbezüglich aus der Gesundheitsbranche erfährt, spiegelt den weit verbreiteten Willen, die mit digitalen Technologien verbundenen Potentiale auch in Deutschland endlich zu heben. Wir wollen die digitale Transformation im Interesse einer besseren Gesundheitsversorgung gestalten, ohne dabei zugrundeliegende Werte wie Solidarität, Selbstbestimmung oder die freie Arzt-, Krankenhaus oder Krankenkassenwahl zu opfern. Nur mit digitalen Technologien kann den berechtigten Ansprüchen informierter Patienten nach Sicherheit und Transparenz in Kombination mit einer für den Einzelnen optimierten, also personalisierten Medizin Rechnung getragen werden.

Eine der zentralen Aufgaben des Health Innovation Hubs (hih) besteht darin, Seite an Seite mit dem Ministerium und der Gematik, die breite Allianz der Willigen zu stärken und den Nutzen der Digitalisierung für Patienten und Behandler erlebbar zu machen. Es geht um den Sprung von ‚Power Point‘ in die reale Welt. Dafür brennt unser interdisziplinär aufgestelltes hih-Team, bestehend aus Ärzten, Pflegern, Apothekern, Juristen und erfolgreichen Digital-Health-Unternehmern.

Was bedeutet das Digitale Versorgung Gesetz für die Praxis?
Das Gesetz schafft die Grundlage für den regelhaften Einsatz digitaler Gesundheitsanwendungen, sogenannter DiGAs, im klinischen Alltag. Ähnlich wie Medikamente oder Heilmittel, können in Zukunft auch Apps, sofern sie sicher und für den Patienten von Nutzen sind, vom Arzt verschrieben werden. Das klingt so simpel, ist aber eine kleine Revolution. Sofern Sicherheit und potentieller Nutzen einer DiGA belegt sind, kann die App nach Beantragung vom Arzt verschrieben werden. Dies trägt vor allem der hohen Geschwindigkeit digitaler Innovationen Rechnung. Mit der App auf Rezept vom Arzt setzt sich Deutschland international an die Spitze der digitalen Transformation im Gesundheitsbereich. Somit verbessert dieses Gesetz nicht nur die medizinische Versorgung, sondern stärkt auch den Innovationsstandort Deutschland. Auf einmal werden wir als digitale Innovationstreiber wahrgenommen. Das System der DiGAs wird sich langsam vortasten. Apps werden bestehende Therapien zunächst nur unterstützen. Sie werden die Arzt-Patient-Kommunikation beschleunigen, und durch mehr Transparenz die Medizin sicherer machen.
Eine sehr zentrale Rolle spielt die elektronische Patiententakte (ePA). Wie sieht ihre inhaltliche Ausgestaltung aus?
Ja, die ePA ist das Herzstück aller Digitalisierungsbemühungen. Im Unterschied zur heutigen Situation, in der Patientendaten immer dort gespeichert werden, wo sie entstehen, ist es mit der ePA möglich, sämtliche auf einen Patienten bezogene Daten unabhängig vom Entstehungsort zusammenzufassen. Auf diesem Daten-Fundament basieren alle anderen digitalen Gesundheitsanwendungen, zumindest diejenigen, die auf aktuelle medizinische Daten zurückgreifen.

Bildlich gesprochen, ist die ePA das Fundament und der erste Stock eines Wolkenkratzers: Daten gehen bei Nutzung der ePA nicht mehr verloren und stehen, unabhängig vom Entstehungsort, jederzeit jedem Berechtigten zur Verfügung. Darauf aufbauend, kommen jetzt in den Stockwerken zwei und fünf das e-Rezept, die e-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (e-AU) sowie zahlreiche DiGAs.

Woran erkennen Ärzte, Patienten und Angehörige den Mehrwert?
Der Erfolg der ePA ist abhängig von einer möglichst breiten Akzeptanz. Akzeptanz wiederum setzt Sicherheit und erkennbaren Nutzen voraus. Dabei ist der Nutzen für Patienten evident. Untersuchungsergebnisse gehen nicht mehr verloren; die medizinische Versorgung wird mit dem e-Rezept und der e-AU einfacher und bequemer.

Entscheidend ist aber, dass die ePA auch für die Behandler erkennbaren Nutzen bringt. Die ePA muss dazu beitragen, Ärzte und Pflegende zu entlasten. Natürlich muss es um den Wegfall von Doppel- und Routine-Dokumentationen gehen. Darüber hinaus muss aber auch direkter medizinischer Nutzen erlebbar sein. Entscheidend sind deshalb die ePA-Inhalte. Dabei denken wir im hih an folgende drei konkrete Dokumente:

  1. Notfall- und Patientenpass: eine Art Deckblatt, das alle Diagnosen sowie die aktuelle Medikation, bestehende Allergien und sonstige Besonderheiten eines Patienten zusammenfasst. Dieses Dokument würde jeden Erstkontakt eines Arztes oder Pflegenden mit einem Patienten, egal ob ambulant oder stationär, erheblich vereinfachen.
  2. Den Entlass-Arztbrief am Tag der Entlassung in der ePA. Damit würden die Hürden bei der Überwindung der Sektorengrenzen vom Krankenhaus zum Hausarzt oder zur Reha dramatisch reduziert.
  3. Aggregation von Laborwerten, unabhängig vom Anforderer und durchführendem Labor, aufgetragen über einen Zeitstrahl. Gerade bei chronischen Erkrankungen könnten Therapien viel zielsicherer angepasst werden.
Wer führt sie und hat Zugriff auf die Daten?
Alle medizinischen Daten gehören dem ­Patienten. Der Patient entscheidet, ob es eine ePA gibt, welche Dokumente in die Akte kommen und wer Zugriff auf die dort gespeicherten Daten erhält. Angelegt wird die ePA von Ärzten. Sie beinhaltet Arzt-geführte sowie von Patienten eingestellte Dokumente. Darüber hinaus sollte es, meiner Meinung nach, auch Apothekern und anderen Leistungserbringern möglich sein, ePA-Dokumente nicht nur einzusehen, sondern auch einzufügen. Mit der ePA erhält der Apotheker einen Überblick über die gesamte Medikation und die dazugehörigen Diagnosen eines Patienten und kann so maßgeblich zu einer besseren und vor allem sichereren Medizin beitragen.
Wie weit wird sie offen sein, um bestehende oder zukünftige Werkzeuge wie eine KI-gestützte Anamnese durchführen zu können?
Um im Bild des Wolkenkratzers zu bleiben: KI-unterstützte Applikationen sind die Stockwerke zehn bis 20! Gelingt die flächendeckende Einführung der ePA mit den Daten der Haus- und Fachärzte, Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen sowie der Versicherten selbst, werden erstmals longi­tudinale Betrachtungen, bezogen auf den einzelnen Patienten, in Echtzeit möglich sein – und das über die bestehenden Sektorengrenzen hinweg. Dies allein ist ein riesiger Fortschritt, der die Qualität der medizinischen Versorgung erheblich verbessert und der sich natürlich in Richtung KI weiterdenken lässt. Ansätze hierfür finden sich bereits in verschiedenen Praxisbeispielen der Medizininformatik-Initiative, die zum Beispiel KI-gestützte Tools in Tumorboards verwenden.   
Die Interoperabilität ist ebenfalls eine zentrale Anforderung, mit der sich die deutschen Akteure schwerer tun als andere Länder. Welche Maßnahmen planen Sie auf diesem Gebiet?
Es ist wichtig, dass sich die deutsche Medizin mehr an internationalen Standards orientiert. Erste Schritte sind diesbezüglich ja von Ministeriumsseite, das für das Thema vor allem verantwortlich zeichnet, bereits getan. HL7, FHIR und SNOMED CT sind die Schlagwörter. Gleichzeitig müssen die Hersteller von IT-Systemen verstehen, dass die Zeit geschlossener Systeme abgelaufen ist. Medizinische Daten gehören dem Patienten und müssen, ganz unabhängig vom Entstehungsort ohne Hindernisse in eine personifizierte ePA integrierbar sein. Diesbezüglich liegt sicher noch viel Arbeit vor allen Beteiligten. Bislang habe ich aber keinen Mangel an Bereitschaft der handelnden Institutionen wie Kassenärtzliche Bundesvereinigung Ärztekammer oder auch Industrievertreter erkennen können.
Wie offen stehen Sie gegenüber neuen Marktteilnehmern? Angenommen der Service von Amazon liefert günstiger, schneller und ist ebenso sicher wie die Apotheke vor Ort – wird dieser Konzern seine Chance in Deutschland erhalten?
Für mich ist der Maßstab immer: die beste Lösung für die Menschen. Ganz zentral gehören dazu die flächendeckende medizinische Versorgung und Beratung der Menschen – in der Stadt ebenso wie auf dem Land. Knapp 20 000 Apotheken vor Ort leisten diesbezüglich heute einen zentralen Beitrag, der durch die Verfügbarkeit der ePA in Qualität und Bedeutung noch erheblich zunehmen wird.
Der Pflegebereich steht vor großen und  zahlreichen Herausforderungen. Welche digitalen Lösungen sehen Sie auf diesem wichtigen Gebiet?
Die Digitalisierung der Pflege bietet zahlreiche innovative und richtungsweisende Ansätze. So sollte die seit Jahren diskutierte digitale Dokumentation und Abrechnung endlich Realität werden. Zudem sollte der Marktzugang für moderne Technologien transparenter werden. Vor allem aber muss die Pflege als vollwertiger Partner auch in ePA und Telematik-Infrastruktur integriert werden.
Die Realität sieht heute in vielen ärzt­lichen Praxen noch ziemlich analog aus. Wie weit wollen Sie bis 2025 kommen?
Das stimmt meines Erachtens so nicht. Keine ambulante Praxis arbeitet heute ohne Praxisverwaltungssystem. Das von Ihnen eingangs erwähnte papierfrei arbeitende Uniklinikum Hamburg-Eppendorf hat durchaus Nachahmer gefunden. Jetzt geht es mit der Einführung der ePA zum 1. Januar 2021 um die Verbindung der verschiedenen digitalen Dateninseln, bezogen auf den einzelnen Patienten. Darauf werden dann die im DVG geregelten DiGAs auf Rezept aufsetzen können. Gelingt uns das, wie im Augenblick vorgesehen, wird das deutsche Gesundheitssystem auch in Zukunft keinen Vergleich scheuen müssen.

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