Joe Kuhl war genervt. Sein Robodoc hatte ihm gerade eine E-Mail geschickt. Auf einer seiner letzten Außendienstreisen musste er sich was Ansteckendes, Ekliges gefangen haben. Der WC-Sensor hatte routinemäßig den Urincheck über die Standleitung an das Rhein-Kliniken-Sektor-MVZ übermittelt, und da waren diese Kokken aufgefallen. Jetzt wusste er, warum das immer so dysurisch brannte.
Joe nahm lieber das Terminal in seinem Arbeitszimmer (im Wohnzimmer saß seine Frau). Er loggte sich ein und schob die staatliche Gesundheitskarte in den Leser. Es dauerte eine Minute, dann erschien das Popup, in das er seine PIN eingab. Noch eine Minute, dann stand die Verbindung zum Robodoc. Seine History klappte auf, und er sah den Warnhinweis. Daneben ein Link: Serviceangebot Ihrer Gesundheitskasse. Er klickte drauf und wartete. Ein weiteres Popup: „Personenbezogene Daten werden ausgetauscht. Weiter. Abbrechen.“ Also weiter. Schließlich wollte er das Dysurische loswerden.
Schon war er auf der Seite von DocMorbus. Zehn Sorten Pillen waren da aufgelistet, sieben davon ausgegraut. Als er mit der Maus darüber fuhr, blinkte es: „Wird von Ihrer Gesundheitskasse nicht erstattet.“ Er wählte eins von den anderen. „Ihre Bestellung wird bearbeitet. Bitte warten.“
Noch ein Popup: „Bitte legen Sie Ihre Gesundheitskarte in das Lesegerät. Weiter. Abbrechen.“ Joe runzelte die Stirn, zog die Karte aus dem Leser und steckte sie wieder zurück. Nichts. Er drückte auf „Weiter“. Na also: „Bitte geben Sie Ihre PIN ein.“ Er gab sie ein und bestätigte. Ein Ladebalken blinkte. „Ihre Karte wird überprüft. Bitte warten.“
Nebenan rumorte seine Frau. Joe wurde nervös. Endlich klappte der Balken weg: „Der Auftrag wurde auf Ihrer Karte gespeichert. Sie können die Ware innerhalb von 24 Stunden in Ihrem SektorServicePoint abholen. Dazu benötigen Sie die Bestellbestätigung, die Sie jetzt ausdrucken können. OK.“
Das war jetzt dumm. Der Netzwerkdrucker stand im Wohnzimmer. Joe dachte fieberhaft nach, fummelte an den Systemeinstellungen und schaltete den Drucker offline. Dann schickte er den Druckauftrag an den Spooler. So würde es gehen.
Er zog die Karte und schaltete ab. Dann holte er sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Später holte er noch mehr. Irgendwann legte er sich neben seine Frau, die schon lange schlief.
Morgens fiel ihm das Aufwachen schwer. Er war spät dran. Also verzichtete er aufs Frühstück und sah zu, dass er auf die Straße kam. Er sprang in den Wagen und startete. Nichts. Mit einem jämmerliche Quieken erwachte das Navi im Armaturenbrett: „Sie sind nicht angeschnallt.“ Schien vorwurfsvoll zu klingen. Joe seufzte, schnallte sich an startete den Motor und fuhr zu seinem ersten Termin. Das Navi hatte sich automatisch die Tour vom Server seines Büros geladen und wies ihm den Weg. Ab jetzt war er im Dienst.
Am späten Nachmittag hatte er seine Aufgabenliste abgearbeitet. Erst jetzt fielen ihm die Kokken wieder ein. Mist. Er hatte die Bestellbestätigung nicht gedruckt. Hoffentlich brauchte seine Frau den Drucker nicht. Die kriegte den nie online und würde sich wieder beschweren. Na ja, wird wohl auch ohne Bestellbestätigung gehen.
Joe steuerte den nächstgelegenen ServicePoint an. Er stellte das Auto ins Parkverbot (würde ja nicht lange dauern) und zog seine Karte durch den Türöffner. Die Tür sprang klickend auf. Er zwängte sich in die Box und schob die Karte ins Terminal. Nach der PIN-Abfrage und einer Minute begrüßte ihn der ServicePoint: „Guten Abend, Herr Kuhl. Was möchten Sie tun? History aufrufen. Counselling beantragen. Emergency Service. Transaktion abschließen. Abbrechen.“ Joe überlegte. Nichts schien plausibel. Schließlich wählte er „Transaktion abschließen“ (schließlich wollte er die Sache zu einem Ende bringen). Es dauerte endlos. Endlich poppte ein Warnhinweis auf: „Dieser ServicePoint kann Ihre Transaktion nicht bearbeiten. Bitte wenden Sie sich an einen Operator. Jetzt. Später. Beenden.“ Fünf Minuten waren vergangen. Joe klickte auf „Später“. Kommentarlos surrte seine Karte aus dem Schlitz. Er griff sie und spurtete zurück zum Wagen. Zu spät. Das Navi bemerkte mitleidslos: „ Ein externer Zugriff hat stattgefunden. Der Beleg wurde an Ihren Drucker gesandt. Sie können ihn zuhause ausdrucken und überprüfen. Bitte überweisen Sie den offenen Betrag von 55 € innerhalb von 24 Stunden an die auf dem Beleg ausgewiesene Bussgeldstelle, um ein Fahrverbot zu umgehen.“ Joe war zu müde, um sich darüber aufzuregen. Er startete, stellte fest, dass es nicht ging, schnallte sich seufzend an und startete erneut. Zuhause trank er ein Bier und legte sich schlafen. Seine Frau war bei einer Freundin.
Morgens fühlte er sich etwas besser. Bis auf die Dysurie. Er wollte den Drucker online schalten und stellte fest, dass der schon online war. Merkwürdig. Er sah in den Spooler: „Auftragsbestätigung (Kopie1); Bussgeldbescheid“. Ohne zu überlegen schickte er den Auftrag ab und holte das Papier aus dem Auffangkorb. Ein zweidimensionaler Barcode, für das menschliche Auge nicht zu entziffern und ein dreiseitiges Formular mit kleinen Buchstaben, das er zur Seite legte.
Kurz darauf stand er in der SektorServiceBox und loggte sich ein. „Bitte warten.“ Offensichtlich hatten sie wieder Leitungsprobleme, das war nicht so selten in dieser Gegend.
Endlich war er drin: „Guten Morgen, Herr Kuhl. Was möchten Sie tun? Counselling beantragen. Emergency Service. Abbrechen.“ Was war das jetzt? Er wollte seine Pillen. Abbrechen, Karte raus, Karte rein, PIN, warten. Es dauerte, dann ein rotes Popup: „System override. Counsellor ready.“ Das Popup klappte zu, ein Avatar blinkte in der linken oberen Bildschirmecke: „Klick mich“.
Joe seufzte und klickte. “Guten Morgen Herr Kuhl. Was kann ich für sie tun?” „Ich will meine Pillen abholen.“ Welche Pillen?“ „Die ich bestellt habe.“ „Geben Sie bitte Ihre Bestellnummer ein.“ Joe starrte auf den Barcode. „Da ist keine Bestellnummer.“ „Haben Sie eine hardcopy der Bestellbestätigung?“ „Sehen Sie auf meiner Karte nach.“ Das System summte eine Weile vor sich hin und meldete sich dann wieder: „Die Daten auf der Karte müssen mit der hardcopy abgeglichen werden, um die Authentizität zu verifizieren. Bitte legen Sie die hardcopy in den Scanner.“ Joe schob den Ausdruck in den Scannerschlitz. Es summte wieder. Der Avatar runzelte die Stirn: „Die Kopie kann nicht gelesen werden.“
Joe begann zu schwitzen. Wütend tippte er: „Mein Hund hat das Original gefressen.“ Nichts geschah. Dann: „Der Datenabgleich mit der örtlichen Finanzbehörde ergab, daß Sie keine Hundesteuern zahlen. Die örtliche Finanzbehörde wird sich innerhalb der nächsten 24 Stunden wegen möglichen Hundebesitzes mit Ihnen in Verbindung setzen. Fakultativer Servicehinweis Ihrer Gesundheitskasse: Sie haben noch 9 Stunden Zeit, Ihr Bußgeld zu begleichen, um ein Fahrverbot zu umgehen. Möchten Sie jetzt das Original Ihrer Bestellbestätigung einlesen lassen?“ „Das ist doch wohl ein Witz! Ich hatte einen Netzwerkfehler. Außerdem habe ich gar keinen Hund.“ „Bitte definieren Sie Witz.“ „Sehen Sie doch bei Wikipedia nach.“ „Wikipedia ist nicht staatlich autorisiert. Was kann ich jetzt für Sie tun, Herr Kuhl?“ „Ich will meine Pillen.“ „Einen Moment bitte.“
Von Minute zu Minute wurde Joe unruhiger. Jetzt stand er schon eine halbe Stunde in dieser Box; draußen hatten sich schon Leute gesammelt, die immer ungeduldiger vor der Einwegscheibe herumtanzten. Endlich: „Der Datumsstempel der auf der Karte gespeicherten Bestellbestätigung weicht von der zulässigen Abholzeit um sieben Stunden ab. Der Vorgang wurde storniert. Bitte wiederholen Sie den Bestellvorgang von Ihrem persönlichen Terminal aus. Der Geschäftsvorfall wird jetzt beendet.“ Zack, surrte die Gesundheitskarte aus dem Lesegerät und der Bildschirm füllte sich wieder mit den bunten Wolken.
Joe wankte nach Hause. Er aß einen trockenen Toast, um seine Magensäure aufzufangen und spülte mit einem Glas Wasser nach. Dann setzte er sich an sein Terminal und rief die neuen Nachrichten ab.
„Sehr geehrter Herr Kuhl. Wir erhielten von Ihrer Gesundheitskasse den Hinweis, dass Sie möglicherweise wegen gesundheitlicher Probleme indisponiert sein könnten und möchten Ihnen daher erfreulicherweise mitteilen, dass wir Sie von allen Verpflichtungen gegenüber der AußendienstServiceAgentur entbunden haben. Bitte geben Sie Ihren Dienstwagen innerhalb von 24 Stunden am nächsten ServicePoint der AußendienstServiceAgentur gegen eine Übernahmegebühr von 155 € ab und melden Sie sich innerhalb dieser Frist bei der Agentur für Arbeitslosigkeitsverwaltung. Mit freundlichen Grüßen Ihre AußendienstServiceAgentur.“
„Sehr geehrter Herr Kuhl. Die örtliche Finanzbehörde beglückwünscht Sie zum Besitz eines Hundes. Da wir festgestellt haben, dass sich das Tier bereits während der letzten 24 Monate in Ihrem Besitz befunden haben muss, bitten wir Sie, die fällige Hundesteuer in Höhe von 1500 €, zuzüglich einer Bearbeitungs- und Säumnispauschale von 2800 €, innerhalb von 24 Stunden auf eines unserer Konten zu überweisen. Wir bedanken uns bei Ihnen für die Unterstützung der Solidargemeinschaft. Mit freundlichen Grüßen Ihre Finanzbehörde.“
„Hallo Joe. Der Servicetechniker hat in deinem Spooler ein merkwürdiges Dokument gefunden, aber er hat eine Sicherheitskopie davon gemacht. Du, ich weiß echt nicht, was ich davon halten soll: der hat dich sicherheitshalber getraced und mir gesagt, dein Motion-RFID hätte sich an den Toll-Connect-Brücken in der Nähe des Bezirks für erotische Dienstleistungen eingeloggt und dein Passport-RFID und das einer Leistungserbringerin für unmoralische Dienstleistungen seien fast 10 Minuten ortsgleich gewesen. Wenn das stimmt, kannst du unsere Beziehung echt vergessen. Melde dich nicht, ich bin erst mal bei ner Freundin. Gruß Mia.“
„Sehr geehrter Herr Kuhl. Der Robodoc Ihres Rhein-Kliniken-Sektor-MVZ hat festgestellt, dass Sie an einer ansteckenden Krankheit leiden, und dass eine leitliniengerechte Therapie aufgrund Ihrer mangelnden Mitwirkung bisher nicht durchgeführt werden konnte. Außerdem verzeichnet der Scanner Ihres Kühlschrankes gesteigerten Alkoholkonsum. Das Log der Providersoftware Ihres Küchenblocks weist auf Unterernährung und einseitigen Kohlehydratverzehr hin. Die Protokolle der Bewegungssensoren Ihres Schlafzimmercontrollers belegen ein Sistieren sexueller Aktivitäten in den letzten 2 Tagen und weisen außerdem darauf hin, dass sich Ihre Ehefrau von Ihnen getrennt haben könnte. Die Sensoraufzeichnungen zweier ServicePoints belegen, dass Sie vegetativ übererregbar sind. Eine Übertragung der Finanzbehörde ergab, dass Sie den Besitz eines Hundes verheimlichen, und schließlich weisen die Aufzeichnungen der Straßenverkehrskontrollbehörde darauf hin, dass Sie zu Regelverstößen und impulsiven Handlungen neigen. Das Risiko einer akuten psychischen Destabilisierung ist daher immanent und wir fordern Sie auf, sich innerhalb von 6 Stunden mit der sektoralen Instanz der Rhein-Kliniken in Verbindung zu setzen, um einen Aufnahmetermin zu vereinbaren. Im Falle einer Weigerung werden Zwangsmaßnahmen über den sektoralen psychiatrischen Dienst der Rhein-Kliniken eingeleitet. Mit den besten Wünschen für Ihre Genesung Ihr Robodoc.“
„Hallo Joe. Ich bin Kurt. Servicetechniker bei AllCom. Interessantes Dokument hab ich da in deinem Spooler gefunden. Konnte den barcode knacken und hab mich in deine history eingeloggt. Die steht jetzt auf itsyourlife.public.com/joekuhl im Netz. Möchte mal wissen, was es dir wert ist, die Seiten wieder zu löschen. Melde dich. Unter 10.000 brauchst du aber gar nicht erst anfangen. Kurt.“
„Sehr geehrter Herr Kuhl. Ihre Gesundheitskasse freut sich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass wir den Risikoanteil Ihres Beitragssatzes Ihren aktuellen Bedürfnissen angepasst haben. Aufgrund Ihrer psychischen Instabilität bieten wir Ihnen eine zusätzliche Absicherung an, die, gegen einen geringen Aufpreis von 255 € monatlich, auch die stationäre Behandlung in einer der Rhein-Kliniken Ihres Sektors beinhaltet. Wir bitten Sie daher um Anpassung Ihrer monatlichen Solidarbeiträge von 750 auf 1005 €, rückwirkend zum Beginn des Kalenderjahres, um die Ausgleichszahlungen aus dem Risikostrukturausgleich gegenfinanzieren zu können. Sollten Sie der Beitragsanpassung nicht zustimmen, drücken Sie einfach auf „Ablehnen“. Der Krankenversicherungsschutz endet dann, ebenfalls rückwirkend, zum Beginn des Kalenderjahres. Ihre Gesundheitskasse.“
„Sehr geehrter Herr Kuhl. AllCom freut sich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihre Vertragsbindung wegen akuter psychischer Belastungen per sofort neutralisiert wird. Sie haben keine weiteren Verpflichtungen aus Ihrem account zu erwarten. Mit freundlichen Grüßen Ihre AllCom.“
Der Bildschirm wurde schlagartig dunkel.