Die facharzt.de Leser Dr. Christian Rauscher und Dr. Michael Emmerich informieren in einem offenen Brief an alle Kollegen über die Folgen, die die Reformpläne von Bundesgesundheitsministerin Schmidt aus ihrer Sicht haben werden.
Der offene Brief ist hier dokumentiert.
Dienstag, 13. Dezember 2005
Offener Brief an alle Kollegen
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
die Bundestagswahlen sind vorüber, Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat nun Ihre Utopien und Visionen, wie Ihre Gesundheitspolitik künftig geplant ist, in den diversen Medien öffentlich abgesetzt mitsamt ihrem gegenwärtigen Arztbild. Ihre Meinungsäusserungen sind – es kann von uns nicht anders interpretiert werden – als Kriegserklärung gegenüber unserem Berufstand gedacht und sollten daher näher kommentiert werden:
1.
Frau Ministerin Ulla Schmidt fordert die finanzielle Gleichstellung hinsichtlich des Arzthonorares zwischen PKV- und GKV- Versicherungen mit folgender Begründung: Privatpatienten würden von den Ärzten präferiert behandelt.
Das Argument der Bevorzugung von Privatpatienten gegenüber Kassenpatienten in Bezug auf operative Eingriffe (sie nannte exemplarisch Blinddarmentzündung) ist von Frau Schmidt schlichtweg eine Frechheit, welches einer öffentlichen Entschuldigung gegenüber der Ärzteschaft bedarf. Sie unterstellt damit nach unserer Auffassung in dieser Notfallsituation, dass wir wohl aus purer Geldgier einen Kassenpatienten in die Peritonitis treiben würden, bloß um beim Privatpatienten das Sahnehäubchen, wie es der Kassenchef der AOK Ahrens postulierte, abzusahnen.
Schlimmer noch: Frau Schmidt hatte neulich in einem Fernsehinterview gesagt, es könne nicht sein, dass ein krebskranker Privatpatient sofort einen Termin bekomme, während ein Kassenpatient warten müsse. Wir kennen in unserer Region keine onkologisch ausgerichtete Klinik und kein onkologisches Kompetenzzentrum, welches nicht innerhalb kürzester Zeit und ungeachtet des Versicherungsstatus oder des eigenen Budgets Krebspatienten annimmt.
Die genannte propagandistische Äusserung dieser Ministerin diffamiert unseren Berufstand und ist unserer Meinung nach eine üble Nachrede. Wir werden von ihr coram publico nach unserer Auffassung als menschenverachtende Finanzhaie dargestellt. Dieses Ärztebild öffentlich zu kolportieren, provoziert eine generelle Rücktrittsaufforderung dieser Ministerin durch uns Mediziner. Dass Ärzte elektive Eingriffe beispielsweise Hernienoperationen, Ops nicht maligner Strumen, Myome, u.v.a.m sowie Routinediagnostik bei GKV-Patienten gegebenenfalls in ein neues Quartal schieben, ist nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, dass für all diese Leistungen wohl Kosten anfallen aber bei ausgeschöpften Budget keine Honorierung erfolgt.
Unser Gesundheitssystem ist eines der grössten Wirtschaftszweige in Deutschland mit einer äusserst effizienten Versorgung. Unter den Kautelen, dass die Privatkassen den gesetzlichen Krankenkassen gleichgestellt werden sollen, werden unser Meinung nach sämtliche Privatkliniken und Privatkassen schliessen müssen mit allen Konsequenzen des Abbaues zehntausender Arbeitsplätze. Die pharmazeutischen Originalanbieter, die auch von Privatpatienten profitieren (keine Budgethaft), werden Ihre Firmensitze ins Ausland verlagern. Nach bereits durchgeführten Umfragen, stehen unter den genannten Umständen mehr als 120.000 Arbeitsplätze alleine bei den niedergelassenen Ärzten zur Disposition.
2.
Frau Minister Schmidt plant die Festsetzung eines Arzneimittelkostensatzes je Patient (Bonus-Malus-System), der bei Überschreitung zu 50% von den Ärzten getragen werden soll. Auf diese Weise geht das Morbiditätsrisiko vollständig zu Lasten der Ärzte über. Dies wird vermutlich drei wesentliche Auswirkungen nach sich ziehen:
– Die Patientenversorgung wird dramatisch verschlechtert, da Ärzte gezwungen sind, finanziell zu überleben weshalb sie sich zwangsläufig knallhart an die Rahmenbedingungen halten müssen.
– Es werden kaum noch Originalpräparate verordnet werden können mit der Folge, dass – wie bereits erwähnt – grosse Pharmafirmen rigide zahllose Arbeitsplätze am Standort Deutschland abbauen werden.
– Ärzte, die sich aus ethischen Gründen diesen Grundlagen widersetzen, werden in den finanziellen Ruin getrieben.
Das Bonus-Malus System ist daher unsozial und unethisch.
3.
Frau Minister Schmidt kokettiert mit der Meinungsbildung des AOK- Chef Ahrens, dass die Ärzte in erster Linie zu 90% von den Kassenpatienten leben und daher auf die Kassen angewiesen sind. Der Sachverhalt ist umgekehrt: Zunächst braucht uns die GKV, damit Ihre Patienten von uns Ärzten effektiv und zu jeder Zeit versorgt werden.
Denn: Wir Ärzte sorgen für eine sichere Geburt, betreuen Menschen von Ihrem Säuglingsalter an bis hin ins hohe Alter; wir operieren Menschen, retten in akuten Notfällen Menschenleben, führen umfassende Diagnostik und teils höchst diffizile Therapiestrategien durch, wir machen Hausbesuche, Notfallbehandlungen rund um die Uhr, wir führen verschiedenste Beratungen und Gesprächsleistungen durch.
Die Haltung widerspiegelt daher unserer Berufsgruppe gegenüber eine Arroganz, die korrigiert werden muss. Immerhin ist bei einem Großteil der Patienten die Bindung zu ihren Ärzte sehr viel grösser als zu ihrer Kasse oder zu ihrer Partei.
4.
Während Ärzte über zahllose Vorgaben gegenüber vielen Institutionen völlig transparent sind, war es dem Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen nicht möglich (Veto des Bundesgesundheitsministeriums !!!!!) eine Prüfung der Kassen für das Jahr 1994 vorzunehmen. Die Verwaltung der Kassen verschlingt jährlich ca. 8 Milliarden Euro. Die Ausgaben wachsen im selben Zeitraum um ca. 4-7 %( Kosten für zahllose Verträge, DMP etc.). Nach Berechnungen führender Wirtschaftsinstitute liessen sich mindestens 50 % dieser Kosten einsparen.
5.
Es gäbe so vieles mehr anzumerken wie Sie aus den diversen Zeitungen, aus dem Internetlink: www.facharzt.de, aus Ihren Berufsverbänden und anderen Quellen entnehmen können. Oben genanntes soll deshalb auch nur exemplarisch beleuchtet werden, stellvertretend für die zahlreichen anderen Problembereiche in der Quadriga Arzt, Kasse, Politik und Patient, wobei ersterer und letzterer sich am nächsten stehen. Summa summarum muss aus dem Gesagten, liebe Kolleginnen und Kollegen ein Konsens entstehen, der fachübergreifend, fair und umsetzbar ist.
Daher rufen wir Sie alle auf:
Es ist selbstverständlich eine EHRENANGELEGENHEIT für jede Ärztin und für jeden Arzt im Interesse des Kollektives der niedergelassenen Mediziner nach Stuttgart zu gehen, um für das Wohlergehen unserer Patienten, für unsere Existenz und für unsere Zukunft zu kämpfen. Zeitgleich ist es eine Frage der Ehre und der Selbstachtung zu entscheiden, nicht an dieser so wichtigen und grossen Veranstaltung teilzunehmen. Jede Teilnahme eines Kollegen hat immensen Wert.
Denn: Solidarität ist nur so gross wie die Summe aller, die sich der breit anlegten Aktion anschliessen. Protestieren 20% der Kollegen gegen die derzeitigen Umstände, so wird daraus keine scharfe Speerspitze geschliffen werden können zur Abwehr der drohenden Repressalien. Sind wir hingegen 80% aller Kollegen, welche die derzeitige politische Willensbildung boykottieren, so demonstrieren wir eine Macht, die unsere Vorstellung effizienter Patiententherapie widerspiegelt und die letztendlich unser gemeinsames Überleben von Haus- wie Fachärzten sichern kann. Grabenkämpfe zwischen den beiden Gruppen müssen der Vergangenheit angehören, denn nur als ärztliche Gesamtheit besitzen wir die nötige Kraft, unsere gemeinsamen Ziele durchzusetzen.
Die Gesundheitsministerin geht davon aus, ihre Vorstellung nicht nur ohne den Koalitionspartner realisieren zu wollen, viel mehr noch, sie definiert eine Rechnung ohne den eigentlichen Wirt. Der Wirt (s.o.) sind wir. Insofern betrachten wir – wie eingangs erwähnt – die Zukunftsvisionen der Gesundheitsministerin als eine Kriegserklärung gegenüber der freiberuflichen Ärzteschaft, gegenüber unserer Existenzsicherung und gegenüber der generellen medizinischen Versorgung.
Dennoch möchten wir eine Lanze für Frau Ministerin Ulla Schmidt brechen.
Wir sind sehr glücklich darüber, dass es sie gibt, viel mehr noch, dass sie ihr Ministeramt in die neue Koalition hinein retten konnte. Gäbe es unsere derzeitige "Gesundheitschefin" nicht, so müsste sie neu erfunden werden. Denn: Sie hat ganz und gar in unser aller Sinne das erwirkt, was sämtliche Gesundheitsminister (selbst Seehofer), sämtliche Berufsverbände und sonstige Institutionen in all den Jahrzehnten nie erreichten: Uns alle, ungeachtet ob Kliniker oder niedergelassene Ärzte, ob Haus- oder Fachärzte, ob Privat- oder GKV-Ärzte, zu vereinen. Dafür gebührt ihr all unser Dank und unsere Ehrerbietung.
Liebe Kollegen!
Die Gesundheitsministerin fordert uns heraus. Entweder wir akzeptieren zum x-ten mal devot erneut massive Einschränkungen mit allen negativen Konsequenzen oder wir entgegnen diesen existenzvernichtenden Druck mit dem einzigen probaten Antidot: Gegendruck.
Wir bauen auf Ihre Solidarität, bedanken uns vorab für Ihr Engagement, um an diesen für uns allen so wichtigen Tag präsent sein zu können, um für unsere gemeinsamen Ziele zu kämpfen. Dies ist genau dann möglich, wenn Sie dazu bereit sind. Wir brauchen kein Lokallüftchen, welches allenfalls um eine Häuserecke pfeift, wir brauchen einen Orkan. Welches von beiden wir sind, werden Sie mit ihrem Engagement entscheiden. D.h. Wer mitmacht, macht uns als endlich vereinte Ärzteschaft stärker, wer nicht teilnimmt, nimmt in Kauf, das die Aktivisten Schaden nehmen. Letztere handeln nicht im eigenen Interesse, sondern für die Interessen und Nöte aller, auch der Ihrigen. Lassen sie uns daher nicht im Stich.
Wenn möglich, geben Sie bitte diese Email an bekannte Ärzte weiter.
Herzlichst Ihr
Dr. med. Univ. Christian Rauscher und
Dr. med. Michael Emmerich