Internet, Obstschalen und Mineralwasser: ein Montagmorgen im MVZ
8.00
Pünktlich öffnet das MVZ der Zentral Krankenkasse (ZK) seine Pforten. Für die allgemeinmedizinische Abteilung stehen 7 bestellte und 15 unbestellte Patienten (davon drei Schüler mit „Durchfall“ – heute wird eine Klassenarbeit geschrieben) am Empfang. Von den drei Allgemeinmedizinern ist heute einer ganztags bei der Fortbildung: „Integrierte Versorgung – die Chance für die Zukunft“.
8.10
Zwei der 7 bestellten Patienten haben ihre Konsultation erhalten, die nächsten zwei bestellten Patienten sind pünktlich an der Reihe. Inzwischen sind weitere drei unbestellte Patienten eingetroffen, darunter der Privatpatient Ludwig B., der um 9 Uhr einen wichtigen Geschäftstermin im Nachbarstadtteil hat und die ZK-versicherte Rentnerin Ludmilla V.
8.20
Bei einem der bestellten Patienten ging es fix, der andere ist weinend im Sprechzimmer zusammengebrochen, es scheint noch etwas zu dauern. Der nächste Terminpatient wird pünktlich in das Sprechzimmer gerufen.
8.30
Beide Sprechzimmer sind wieder leer, die nächsten beiden bestellten Patienten werden aufgerufen, einer pünktlich, der andere mit zehn Minuten Wartezeit. Der Privatpatient B. erscheint an der Anmeldung und beschwert sich darüber, dass der Internetanschluss von drei Halbwüchsigen für Computerspiele belagert wird. Die verwirrte Rentnerin Else K. erscheint ohne Termin in der Praxis. Sie hat Fieber und hustet, sie war noch nie hier, ihre Versichertenkarte hat sie vergessen und auch die Krankenkasse fällt ihr nicht ein.
8.40
Die nächsten vier bestellten Patienten melden sich an und suchen die Wartelounge auf.
Der pensionierte Buchhalter Hubert K., der ohne Termin seit acht Uhr wartet, erscheint an der Anmeldung und weist darauf hin, dass die versprochene halbe Stunde Wartezeit nun um zehn Minuten überschritten sei. Da beide Ärzte gerade wieder frei sind, wird er zur Deeskalation in das Sprechzimmer gebeten, das andere wird pünktlich mit dem nächsten Terminpatienten besetzt.
8.50
Der Privatpatient B. verlässt laut schimpfend die Praxis, er könne nun nicht mehr warten, er habe einen Termin. Die nächsten beiden Terminpatienten kommen dran, einer mit zehn, der andere mit zwanzig Minuten Wartezeit. Die Schüler suchen im Internet nach Pornobildern, die fiebernde und verwirrte Else K. hat bei einem Hustenanfall unter sich gelassen, sie wird vor das Sprechzimmer gesetzt.
9.00
Else K. wird in das eine Sprechzimmer geführt, ein Terminpatient mit dreissig Minuten Wartezeit in das andere. In der Wartelounge befinden sich jetzt noch fünf bestellte und sechzehn unbestellte Patienten, 14 von diesen warten nun seit einer Stunde.
9.10
Mit Else K. scheint es noch etwas zu dauern, die Anamnese gestaltet sich schwierig, auch scheinen Antibiotikaallergien vorzuliegen, das Präparat ist nicht erinnerlich. Das frei gewordene Sprechzimmer wird mit einem nicht angemeldeten Patienten von 8 Uhr besetzt.
9.20
Else K. wird von einer Mitarbeiterin zur Röntgenpraxis im dritten Stock gebracht. Inzwischen wurden im anderen Sprechzimmer drei unangemeldete Patienten in zehn Minuten untersucht. Einer von ihnen fragt im Herausgehen, ob sich der Doktor immer so wenig Zeit nimmt. Vier weitere unangemeldete Patienten sind inzwischen erschienen, davon einer mit Verdacht auf Windpocken. Dieser darf nicht in die Wartelounge, sondern muss gleich in das Sprechzimmer. In das andere Sprechzimmer kommt ein Terminpatient mit vierzig Minuten Wartezeit, der Prokurist Alfred N., der sich lauthals über die Unpünktlichkeit beschwert. Er hat alle seine Vorbefunde und eine DinA4-Liste mit Beschwerden mitgebracht.
9.30
Ein Sprechzimmer ist frei und wird mit einem der nicht angemeldeten Patienten von 8 Uhr besetzt. Im anderen Sprechzimmer ist Prokurist N. inzwischen bei der Sigmadivertikulitis von 1986 angekommen. Er ist immer noch etwas verärgert über die Wartezeit, aber immerhin, der Doktor hört zu und nimmt sich Zeit.
Die ZK-Versicherte Ludmilla V. erscheint an der Anmeldung und weist darauf hin, dass sie schon 1 Stunde 20 Minuten wartet. Mit dem Internet kennt sie sich nicht aus, Mineralwasser will sie nicht. Sie wird gleich vor das Sprechzimmer gesetzt.
9.40
Der Prokurist N. wird sanft aus dem Sprechzimmer gedrängt. Ein Sprechzimmer wird mit der enttäuschten Ludmilla V. besetzt, das andere mit einem Terminpatienten mit dreissig Minuten Wartezeit. Inzwischen sind acht Patienten erschienen, die Wiederholungsrezepte brauchen. Einer der Ärzte unterbricht kurz die Sprechstunde, prüft Menge, Plausibilität, Rabattverträge, Zuzahlungen, Wechselwirkungen und Verordnungsdauer und unterschreibt.
In der Wartelounge warten zwölf unangemeldete Patienten seit 1 Stunde 40 Minuten, daher wird jetzt erst einmal daran weitergearbeitet.
9.50
Je drei unangemeldete Patienten konnte jeder Doktor in den letzten zehn Minuten untersuchen, darunter auch die Schüler mit Durchfall, so dass sich die Lage etwas entspannt hat und der Internetanschluss wieder frei ist. An der Anmeldung gibt es eine lautstarke Auseinandersetzung mit dem Patienten Z., der das Rabattmedikament der ZK nicht will. Ausserdem möchte er Hustentropfen aufs Kassenrezept haben. Zur Deeskalation holt ihn einer der Ärzte ins Sprechzimmer und erklärt ihm das Sozialgesetzbuch fünf. Der andere ruft einen Terminpatienten mit zwanzig Minuten Wartezeit auf.
Vier weitere Terminpatienten erscheinen, dazu unangemeldet die Privatpatienten Hugo R. und Eva-Maria H.-R.
10.00
Im Wartezimmer hat sich einer der Patienten von 8 Uhr übergeben, die Helferin wird gerufen. Im Wartezimmer stellt sie nebenbei fest, dass an der Obstschale Kaugummis kleben und dass eine Ladung Mineralwasser in der Tastatur des Internetrechners gelandet ist. Sie schafft den Patienten in das Badezimmer, im Herausgehen wird sie von den anderen Patienten auf die Wartezeit hingewiesen. Die Obstschale entsorgt sie hinterher.
Am Telefon ist der Pflegedienst von Frau Hildegard F., die am Freitag noch in Begleitung der Tochter das MVZ aufgesucht hatte. Es ginge ihr sehr schlecht, unbedingt müsse in den nächsten Stunden jemand vorbeikommen.
10.10
Der erbrechende Patient von 8 Uhr wird untersucht und bekommt die vorbereitete MCP-Injektion. Der andere Arzt nimmt einen Terminpatienten mit zwanzig Minuten Wartezeit dran. Dieser entpuppt sich als Kurgutachten, wurde wohl falsch notiert.
Die Privatpatientin Eva-Maria H.-R. erscheint an der Anmeldung und wundert sich über die lange Wartezeit.
10.20
Patienten fragen nach dem versprochenem Obst. Ausserdem ist das Mineralwasser schal geworden und Becher fehlen. Wegen des kaputten Internetrechners wird der Haustechniker gerufen.
Das Kurgutachten konnte straff abgehandelt werden, der andere Patient erbricht nicht mehr, beide Ärzte sind wieder frei. Einer wird von der Privatpatientin Eva-Maria H.-R. vor der Anmeldung in eine endlose Diskussion verwickelt, der andere vor der Toilette von der weinenden Tochter von Frau Anna B. abgefangen, bei deren Mutter letzte Woche ein Karzinom diagnostiziert wurde.
Ein weiterer unangemeldeter Patient von 8 Uhr wird aufgerufen, dazu ein Terminpatient mit zwanzig Minuten Wartezeit. Die nörgelnde Privatpatientin wird mit einem EKG und einer Lungenfunktionsprüfung bei Laune gehalten.
10.25
Nun muss etwas zügiger gearbeitet werden. Beide Konsultationen sind beendet, wobei eine von einer dringenden Rückfrage aus dem Glückaufkrankenhaus unterbrochen wurde.
Inzwischen sind drei weitere unangemeldete Patienten erschienen.
Die Ärzte behandeln die restlichen unangemeldeten Patienten von 8 Uhr und lassen die Terminpatienten auf Wartezeit hinweisen.
10.30
Inzwischen war der Haustechniker da, er wurde jedoch in der Wartelounge wegen der langen Wartezeiten beschimpft und hat sich erst einmal wieder zurückgezogen. Wegen seines weissen Kittels mit ZK-Emblem hatte man ihn wohl mit einem Arzt verwechselt.
Vier weitere Terminpatienten haben in der Lounge Platz genommen, wo langsam die Lederschwingsessel knapp werden.
Die Auszubildende ist zum Markt unterwegs, um frisches Obst zu holen.
Bei Frau Eva-Maria H.-R. hat das aus Verlegenheit durchgeführte EKG leider ein Vorhofflimmern gezeigt, das weitere Abklärung erfordert, sie wird in das Sprechzimmer geführt. Das andere Sprechzimmer wird mit einem Terminpatienten mit dreissig Minuten Wartezeit besetzt.
Inzwischen hat der Pflegedienst noch einmal wegen des Besuchs angerufen und gedroht, sich bei der Zentralkasse zu beschweren.
Die Helferinnen beginnen, die EDV-Warteliste mit den Patienten in der Lounge zu vergleichen. Dort ist die Stimmung inzwischen auf dem Siedepunkt angelangt…
(Mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. C. Scholber)