Neues aus dem MVZ: die neuen Leiden des Dr. Stein
„Beep!“ tönt es unheilvoll aus der Workstation. Ein Popup-Fenster öffnet sich: „Meinten Sie: Diabetes in der Schwangerschaft? Diabetes mit Amputation des rechten Beines? Diabetes mit Retinopathie“. Dr. Frank Stein schliesst das Fenster mit der Escape-Taste und ruft sich den letzten Entlassungsbericht des Glückaufkrankenhauses auf den Bildschirm. „Einen kleinen Moment bitte“, sagt er zu seinem Patienten, während er die genauen Diagnosen auf einem Zettel notiert.
Klaus F. lächelt ihn an: „Kein Problem, mein PC spinnt auch öfters“. Der smarte Mittfünfziger war heute morgen in das MVZ der Zentralkrankenkasse (ZK) gekommen, um seinen Impfschutz überprüfen zu lassen. Er sieht Dr. Stein heute zum ersten Mal und ist froh, so schnell an die Reihe gekommen zu sein, obwohl er als gestresster Aussendienstler keinen Termin vereinbaren konnte.
„Beep!“, das Fenster öffnet sich erneut. Stein verschlüsselt: „Diabetes ohne Komplikationen, Typ II, nicht insulinpflichtig“ und drückt die Returntaste. Mit einem „Beep!“ meldet sich das Popup-Fenster erneut: „Bitte codieren Sie Begleiterkrankungen“. Stein ist entnervt – die gleiche Prozedur noch einmal. Im Entlassungsbericht findet sich noch ein essentieller Hypertonus ohne Komplikationen.
Nun endlich das Rezeptformular. Der Tetanusimpfschutz ist abgelaufen, seit Kündigung der Impfverträge durch die Zentralkrankenkasse (ZK) muss der Impfstoff individuell verordnet werden.
„Beep!“ Auf dem Rezept erscheinen automatisch Metformin rabattopharm 850 mg und HCT Schladerer 12,5. Stein reibt sich verlegen das Kinn und versucht, die Präparate vom Rezept zu löschen. Ein weiteres Popup-Fenster öffnet sich: „Die Löschung dieser Verschreibung gefährdet Mittel aus dem Morbi-RSA. Wenn Sie wirklich löschen wollen, geben Sie Ihre PIN ein“. Stein nestelt in den Kitteltaschen herum, irgendwo muss doch der Zettel mit der PIN sein…
Klaus F. beginnt, nervös auf seinem Stuhl hin-und herzurutschen. Weiss dieser Doktor wirklich, was er tut? Das MVZ war ja neulich in die Schlagzeilen der Lokalpresse geraten, weil hier offenbar verdorbenes Obst Patienten gefährdet hatte. Und ein stadtbekannter Manager hatte eine Leserzuschrift an die „Ungemeine“ geschrieben, wegen der Zustände hier.
Dr. Stein hat währenddessen ganz andere Probleme. Seit Installation der neuen Software „WinMorbi 2.0“ läuft hier einiges unrund. Natürlich kann er verstehen, dass die korrekte Codierung der Diagnose und die Verschreibung mindestens eines Medikamentes pro RSA-Diagnose für seinen Arbeitgeber wichtig ist. Aber nun wird es echt hinderlich. Stein füllt das Rezept mit dem Kugelschreiber aus, WinMorbi wird er später zähmen. Nur nicht noch einmal Stress mit Patienten, nur nicht eine weitere Beschwerde.
Er verabschiedet den Patienten und gönnt sich ein Glas MVZ-Mineralwasser, dazu einen dieser einzeln eingeschweissten Hartkekse, die neuerdings statt Obst im ZV-MVZ angeboten wurden. Nie wird er den letzten Mittwoch vergessen, an dem er zur Geschäftsleitung zitiert wurde und sich einer wahren Inquisition unterziehen musste: ein Pflegedienst hatte sich beschwert, weil er nicht gleich aus der Sprechstunde heraus zum Hausbesuch gekommen war, das Glückaufkrankenhaus darüber, dass er nicht umgehend zurückgerufen hätte. Ein etwas halbseidener, stadtbekannter Manager fühlte sich an seinem Samstagdienst im MVZ vernachlässigt und hatte die Hotline angerufen und – noch schlimmer – eine Leserzuschrift an das städtische Skandalblatt geschrieben.
Die „Ungemeine“ hatte recherchiert und war auf eine Patientin gestossen, die – ebenfalls in seinem Dienst – nach Genuss des MVZ-Obstes im Krankenhaus gelandet war. In der Obstschale hatte das Gesundheitsamt Escherichia catastrophii und Pseudomonas oscari mülltonnii gefunden und eine Geldstrafe von 20.000 Euro verhängt, die Dr. Stein als verantwortlichem Diensthabenden nun vertragsgemäss ratenweise vom Gehalt einbehalten wurde.
Und dann noch der Regress „sonstiger Schaden“ der Allgemeinen Verunsicherung (AV): Stein hatte für die Rentnerin Else K., die mit einem Decubitus und liegender Venenkanüle in ihre Einzimmerwohnung in der Plattenbausiedlung entlassen wurde, vor Ort 20 Kompressen 10 x 10 cm unsteril verschrieben, ohne die rechtfertigende Diagnose aufzuführen. Die Prüfstelle war sofort informiert worden, die Rechtsabteilung des MVZ war stinksauer. Und der Controller Carl Stromberg war ausser sich, weil Stein für den Hausbesuch eine Überstunde abgerechnet hatte. „Besuchen Sie häufiger gesetzlich versicherte Patienten nach der Sprechstunde, und wir sind bald pleite“, hatte er getobt.
Stein vertreibt die trüben Gedanken aus seinem Kopf . Er will lieber daran denken, dass er heute nicht alleine ist, denn Dr. Laubach ist ja wieder da. Und nächste Woche stossen zwei neue Kollegen dazu: die resolute Elena Rabatski, die nach 15 Jahren Kinderpause mit Fördergeldern der EU aus der Aktion „Ärztinnen zurück in den Beruf“ einen Neuanfang wagt und der feingliedrige Dr. Dr. Hubertus von der Langnase, der nach seinen Jahren an der Speziellen Lipidambulanz und in der Transplantationsmedizin der Hochschulklinik nun die Allgemeinmedizinausbildung im MVZ komplettieren will. Ruhigere Zeiten stehen bevor.
Stein ruft die nächste Patientin auf, die 47-jährige Elly Z. Sie arbeitete bis vor kurzem in einer Filiale des Discounters „Billy“ und ihr war wegen eines Fehlbestandes von Euro 1,30 in der Pfandgutkasse in der letzten Woche gekündigt worden – das Fernsehen hatte berichtet und hatte sogar eine Folge der Sendung „Durcheinanderschreien mit Anne“ diesem Thema gewidmet. Nun ist sie völlig verzweifelt und braucht professionelle Hilfe.
Aus der MVZ-Werbung weiss sie, dass man hier nur fünf Tage auf den Facharzttermin warten muss und sie braucht ja dringend psychologischen Beistand. Gut, dass sie als 400 Euro-Kraft bei der ZK mitversichert ist.
Stein greift zum Telefonhörer und ruft den MVZ-Psychologen an. Nein, dazu sei im MVZ erst eine nervenärztliche Vorstellung nötig, die leiten dann weiter. Also Anruf in der Neurologie/Psychiatrie: ein Termin innerhalb von fünf Tagen sei erforderlich. Die Helferin der Neurologie/Psychiatrie stellt gleich zu Dr. Freude durch, sie weiss dass er ein Studienkollege von Stein ist. Freude stellt klar: innerhalb von fünf Tagen ist ein sogenannter Akuttermin verfügbar. Für den sind nach dem letzten Gutachten der Beraterfirma Meier, Schmidt und Partner zwei Minuten ohne Wartezeit eingeplant. Dies im Stuhl-und Fensterlosen Kurzterminraum hinter dem Rezeptunterschriftpult. Neben den beiden Sprechzimmern, zwischen denen der Doktor immer pendelt.
Stein legt auf, zuckt resigniert die Schultern und geht unter den verwunderten Blicken der Patientin Elly Z. an die Anmeldung, um die „Gelben Seiten“ zu holen…
(Mit freundlicher Genehmigung von Dr. med. C. Scholber)