I.
Ende 2008 dachte ich, mein berufliches Ende sei gekommen. Die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein hatte mir in Aussicht gestellt, dass ich für Januar bis März 2009 etwa 30% weniger Honorar als im ersten Quartal 2008 zu erwarten hätte: man teilte mir 375 "Fälle" zu, für die ich 19.000 € bekommen sollte (49 € pro "Fall"). Das entsprach nicht den Meldungen, die ich der Tagespresse entnehmen konnte: "10% mehr für alle Ärzte!", und ich war verunsichert. Zumal ich die Berechnung meines so genannten "Regelleistungsvolumen" zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht nachvollziehen konnte.
Parallel dazu erfuhr ich, dass der "Bewertungsausschuss" den "Orientierungspunktwert" von ursprünglich 5,11 ct auf 3,5 ct abgesenkt hatte. Das hieß, dass, neben der Mengenbegrenzung durch das "Regelleistungsvolumen", gleichzeitig eine Leistungsabwertung um 30% erfolgte.
Ich musste also zunächst davon ausgehen, Mitte 2009 in ernste finanzielle Schwierigkeiten zu geraten. Vor dem 20.7.2009 war aber nicht mit belastbaren Zahlen zu rechnen (das ist das Datum, an dem die Abrechnung des ersten Quartals normalerweise zugestellt wird). Ich spielte auf Risiko und begann einen sechsmonatigen Blindflug.
Die zu jener Zeit gebräuchliche Beschwichtigungsformel, zum Regelleistungsvolumen kämen ja noch die so genannten "freien Leistungen" hinzu, konnte mich nicht wirklich beruhigen. In der Psychiatrie gibt es nämlich keine "freien Leistungen". Außer Psychotherapie.
II.
Im März 2009 bekam ich den Bescheid für das zweite Quartal. Nun durfte ich 370 "Fälle" zu je 41 € abrechnen (einem "Regelleistungsvolumen" von 16.000 € entsprechend). Das wären dann nochmal 3.000 € weniger, und abermals kaum mit "Alle kriegen 10% mehr!" zu vereinbaren. Aber, was soll's -weiter im Blindflug!
Irgendwann kam dann die Mitteilung, dass Kassenärztliche Bundesvereinigung und irgendwelche "Bewertungsausschüsse" Mitleid mit den Psychiatern gehabt, und die Gesprächsleistungen (EBM-Ziffern 21220 und 21216) aus dem "Regelleistungsvolumen" entfernt hätten: neben der Psychotherapie sollten die also "extrabudgetär" vergütet werden (eine Jahrzehnte alte Forderung, die endlich! umgesetzt wurde).
Ich war etwas skeptisch, denn ich war sicher, dass das "Regelleistungsvolumen" um eben diese Gesprächsleistungen bereinigt werden würde. Im Endeffekt rechnete ich mit einem Nullsummenspiel.
Im Juni kam dann das "Regelleistungsvolumen" für das dritte Quartal 2009: 340 "Fälle" à 22 €, macht 7.800 €. Ups. Das war deutlich weniger, als bei einem Nullsummenspiel zu erwarten gewesen wäre.
Da ich die Gelegenheit hatte, extrem billig einen last minute trip ins Ausland zu buchen, zog ich es vor, mich erst mal zu verdrücken und für eine Weile ins Ausland zu gehen. Zumal meine Arbeit eine gewisse sozioemotionale Erschöpfung ausgelöst hatte, die dringend eines Ausgleichs bedurfte.
III.
Während meiner Abwesenheit erfuhr ich, dass man den "Dienstwagen" der Gesundheitsministerin gestohlen hatte. Nun ja. Ich überlasse es anderen, das Verhalten einer Frau, die sich als Vertreterin einer vermeintlichen, sozialen Gerechtigkeit darstellt, zu be- oder zu verurteilen. Ich finde es allerdings schade, dass man eine "Dienstwagenaffäre" bemüht, statt sie wegen ihrer relevanten, ordnungspolitischen Fehlleistungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Edit: Bundeskanzlerin Merkel ließ sich übrigens zur gleichen Zeit mit der Luftwaffe nach Sylt fliegen, ohne dass es besonders aufgefallen wäre...
Nachdem ich mich hatte überreden lassen, doch noch einmal nach Deutschland zurückzukehren, nahm ich Anfang August meine Abrechnungsunterlagen für das erste Quartal 2009 in Empfang. Und, siehe da, ich konnte weder 30% Verlust, noch 10% Gewinn verbuchen. Im Vergleich zum Vorjahresquartal erhielt ich ein um 30 € (nicht: %) geringeres Honorar: erste Etappe des Blindfluges halbwegs erfolgreich absolviert!
Es kostete mich einige Mühe, diese Abrechnung zu verstehen. Dabei ist alles ganz einfach: man dividiere das "Regelleistungsvolumen" in Euro durch den Orientierungspunktwert von 0,035 € und erhält das abrechenbare Punktvolumen. Flugs ergab sich eine virtuelle "Überschreitung" von 100.000 Punkten, für die ich dann statt 3.500 nur noch 800 € erstattet bekam. Hinzu kamen noch ein paar Psychotherapien, so dass ich im Endeffekt das besagte Honorarminus von 30 € verbuchen durfte. Geschenkt Das Ganze entsprach übrigens den bis 2008 gültigen "Individualbudgets", die seinerzeit auf der Basis der Jahre 1995 bis 1997 errechnet worden waren - in meinen Augen ein Systemfehler. Aber das ist ein anderes Thema, mit dem sich seit 2007 das Sozialgericht beschäftigen darf.
IV.
Parallel zu meinen Berechnungen erschienen merkwürdige Artikel in der Tagespresse: Ärzte sollen Ruhe geben, weil sie (wie etwa Neurologen) 9% mehr Geld kriegen. Das Statistische Bundesamt berichtete gar, dass die Einnahmen der Arztpraxen in 2007 um 12,7% höher gewesen seien, als 2003.
Kann ich nicht bestätigen, und selbst der Studie des Bundesamtes entnehme ich, dass die Praxen für (Neurologie und) Psychiatrie beharrlich an letzter Stelle der Einkommensstatistik liegen. Das nenne ich ein ordnungs- und sozialpolitisches Versagen, gegen das eine "Dienstwagenaffäre" signifikant an Bedeutung verliert.
Die aus der Abrechnung 1/09 gewonnenen Erkenntnisse benutzte ich für eine Hochrechung zum zweiten Quartal. Ergebnis: ein Minus von 3.000 € oder 15%. Sicherheit werde ich aber erst Ende Oktober haben. No risk, no fun.
V.
Nun zum dritten Quartal. Egal, wie ich die Abrechnungsergebnisse der letzten Jahre auch drehe und wende: das "Regelleistungvolumen" wurde so großzügig gekürzt, dass ich den den Anteil meiner Gesprächsleistungen schon verdreifachen müsste, um auf meine Kosten zu kommen. Gleichzeitig müsste ich meine "Fallzahl" bei 340 halten, um nicht im nächsten Jahr mit einem "Regelleistungsvolumen" von nur noch 4.000 € zugestanden zu bekommen...
Konkret sieht es jetzt so aus, dass ich die Grenze meines aktuellen "Regelleistungsvolumen" gestern überschritten habe:
Das ging schnell: ich habe nur drei von zwölf Arbeitswochen dazu gebraucht. In den restlichen 6 Wochen werde ich daher nur noch für den Restpunktwert (0,008 €) arbeiten können; d.h. zu einem Viertel des ohnehin schon um 30% reduzierten Punktwertes.
Konkret: ich muss bis Ende September weitere 120 "Fälle" abarbeiten, für die jedesmal die Ordinationsgebühr und eine Betreuungspauschale fällig werden. Zusammen sind das rund 1.400 Punkte pro Fall, also 170.000 Punkte oder 6.000 €, von denen ich aber nur 1.400 € bekomme. Für diese 120 "Fälle" wiederum sind nach den Vorgaben der Gebührenordnung 78 Arbeitsstunden zu veranschlagen - Zeit, die mir wiederum für die Gesprächsleistungen fehlt.
Diese Ungereimtheiten sind mittlerweile sogar bei Menschen mit ökonomischem Sachverstand angekommen. Herr Wasem beispielsweise, der diesen Unsinn mitverantwortet hat, gab neulich zu bedenken:
„Wir haben mit den Regeln, die seit Januar dieses Jahres gelten, zu stark nivelliert: Praxen, die auf dem Papier viele Patienten haben, die sie aber relativ wenig behandeln, sind sehr gut weggekommen. Praxen, die wenige Patienten haben, je Patient aber ein höheres Volumen ärztlicher Leistungen abrechnen, sind schlecht weggekommen.” Auch müssten einzelne Arztgruppen besser gestellt werden als bisher: „Psychiater beispielsweise".
Fazit:
Von einer verlässlichen Gebührenordnung in Euro und Cent sind wir, angesichts dieser monströsen Punkteschieberei, immer noch Lichtjahre entfernt.
Nach wie vor wird die Versorgung psychisch kranker Menschen finanziell ausgehungert.
In der öffentlichen Berichterstattung hört und liest man nichts darüber, obwohl immer mehr Menschen psychisch krank werden.
Ich arbeite nicht ausschließlich, um Geld zu verdienen, sondern in erster Linie, weil ich mich mit meinem Produkt identifiziere. Darum, und weil sie Dritten persönlichen Nutzen stiftet, hat meine Arbeit einen gewissen Wert. Außerdem muss ich meine Familie ernähren und meine Arbeitsmittel finanzieren. Ich bin daher darauf angewiesen, für meine Arbeit angemessen bezahlt zu werden. Davon bin ich heute weiter entfernt, als je zuvor.
Ich werde also verstärkt über mein Leistungsangebot nachdenken und gegebenenfalls kurzfristig auf andere Geschäftsfelder ausweichen.