"Lasst alle Hoffnung fahren, die Ihr hier eintretet"
Freitag nachmittag - als Barcode-Arzt für zwei Fortbildungspunkte - im Ärztehaus. Mehr als 200 Menschen, ein Gutteil wird rasch in einen zweiten Hörsaal umquartiert.
Wer sind die alle? Phänotypisch vielleicht: Studenten in Angst um das BAFöG? Arbeitslose bei der Umschulung (EDV-Grundkurs für Hilfsarbeiter)? Dann wird jedoch klar - es sind Ärzte, Vertragsärzte! Persönlich haftende mittelständische Unternehmer, fleißig, hochqualifiziert, getarnt als Kinder! Ohnmächtig, in Schreckstarre.
Die zwei Lügen des Jahres 2006 (Bürokratie-Abbau und Endlich Bezahlung in Euro) in einer häßlichen Zerrspiegelung zur schnöden Wahrheit mutiert: 1.) durch Pauschalierung Abrechnung auf einem Bierdeckel, zwei Ziffern (nun GOPs genannt!) reichen, inklusive einer umfangreichen alltäglichen Dienstanweisung ("fakultativ"). Und: 2.) eine noch schlechtere, durch Punktvolumen-Inflation und IVVerträge geminderte Bezahlung.
"Das wolltet Ihr Deppen doch so, oder?" Zwei Stunden PowerPoint: trostloses Herunterbeten, Mitblättern und Mitschreiben der Tarifbestimmungen. Keine Aussprache. Vereinzelt frustrierter Abgang mit Türenschlagen. Ansonsten: Ärzte sind lieb, brav, stumm, setzen alles um, was man ihnen aufträgt. So wird man verwurstet, solche Gefügigkeit wird niemals belohnt!
Der EBM2008 ist die erneut fortgeschriebene, blanke strukturelle Gewalt. Eine aggressive Handlungsanleitung zum finalen Abbau unserer freiberuflichen, mittelständischen, persönlich verantworteten Berufsausübung. Eine Saftpresse, eine Moulinette, um die verbliebenen Reste von Stolz, Selbstbewußtsein und professionellem ärztlichen Widerstand zu zermörsern und die Praxis-Schächtung, das moralische und ökonomische Ausbluten unserer Betriebe zu vollenden. Denn andernfalls, solange es uns freie Ärzte gibt, werden die Filialketten-Konzerne ja nicht für den Staat investieren wollen…
Kann dies hier für uns tröstlich sein?
"Dostojewski scheint ähnliches im Sinn gehabt zu haben, wenn er Kirillov in den «Dämonen» sagen lässt: «Alles ist gut - der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiss, dass er glücklich ist. Nur deshalb. Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick.
» Aus absolut zuverlässiger Quelle weiss ich, dass Dante seine Reisenotizen durcheinanderbrachte und uns deshalb in seiner «Divina Commedia» irrtümlicherweise berichtet, die Aufschrift «Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr hier eintretet» stehe auf dem Tor zum Inferno. Diese Aufschrift steht vielmehr auf der Tür zum Paradies und lautet «Lasciate ogni speranza, e poi entrate» - Lasst alle Hoffnung fahren, und dann tretet ein
Auch der englische Dichter Pope scheint davon gewusst zu haben. In seinem Werk finden wir den merkwürdig tröstlichen Satz: «Gesegnet ist, der da nichts erwartet, denn er soll herrlich überrascht werden.» Auch Wittgenstein kommt einem in den Sinn: «Wer im gegenwärtigen Augenblick lebt, lebt in der Ewigkeit.»
Und schliesslich Lothar Kempter, Dichter aus Winterthur, mit seinem Gedicht «Ins Ohr zu flüstern»: Schliesse die Augen - dann wirst du schauen, Brich deine Mauern - dann wirst du bauen, Lerne harren - dann wirst du gehen, Lasse dich fallen - dann wirst du stehen."
Paul Watzlawick
Ich meine nicht, dass wir innerlich emigrieren dürfen. Ich meine vielmehr, daß ein derartig unverschämter, kaltschnäuziger Angriff auf uns als (Vertrags-)Ärzte die Legitimation zu nahezu jeder Form von Widerstand (Budget-Ferien, Moratorium jedweder DMP-Programme, gegenseitige großzügige Überprüfung auf Arbeitsfähigkeit etc., Körbe, Systemausstieg) hergibt.
Die Ärzteschaft hat dank des Wendehalses Köhler erneut ihre Chance verspielt, dies Unrecht im Rahmen einer Ersatzvornahme durch diejenigen besorgen zu lassen, die uns unterjochen wollen. Wir vollziehen die Entmannung an uns selbst! Medien und Öffentlichkeit nehmen staunend zur Kenntnis, dass wir Ärzte offenbar all dies durch unsere Selbstverwaltung pünktlich zur Deadline am 30.10.07 abgefasst und installiert haben.
Achtung, vormerken! Der Ärztetag der Basis für ganz Deutschland am 9. Februar 2008, diesmal in Hannover. Es gibt in der Tat immer mehr Kolleginnen und Kollegen, die sich für eine der besten Sachen der Welt einsetzen und weiter an anständigen, klugen Lösungen arbeiten. Zu denen es allerdings Mut und Beharrlichkeit braucht.
Axel Brunngraber, Hannover, im Dezember 2008
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